"Fans bilden eine lokale und geschlossene Gemeinschaft. Sie glauben, sie befinden sich im Krieg. Fans sind Fundamentalisten. Aber zum Teil ist das nur Show und es passiert in der Parallelwelt von Fußballstadien."

Der englische Schriftsteller Tim Parks hat mit »Eine Saison mit Verona« ein bemerkenswertes literarisches Fußballbuch geschrieben. Der »ballesterer fm« sprach mit dem Bestseller-Autor über seinen Lieblingsklub Hellas Verona, die Probleme und den Reiz der italienischen Fankultur und nahm stellvertretend für das österreichische Nationalteam eine paar freundliche Worte entgegen.

ballestererfm: Sie sind Engländer und leben seit Jahren in Italien. Während der EM war das keine glückliche Kombination. Für welches Team haben Sie die Daumen gedrückt?

Tim Parks: Selbstverständlich für England, das wird auch immer so sein. Ich lebe zwar sehr gerne in Italien, aber über die Jahre staut sich natürlich auch eine Menge Frust und Ärger an. Wie zum Beispiel die Schikanen die ich bewältigen musste, als ich mich in Italien niederlassen wollte. Der ganze Frust kommt dann meistens bei Fußballspielen wieder hoch, weil sie eine Parallelwelt bieten, wo man Dinge sagen kann, die man normalerweise besser für sich behält. Also international gesehen unterstütze ich England, und wünsche mir das Italien so schnell wie möglich wieder nach Hause geschickt wird.

Das Turnier in Portugal verlief sehr friedlich. Es gab keine Ausschreitungen und mit Ausnahme vom Verhalten einiger kroatischen Fans kaum rassistische Vorfälle. Was macht den Unterschied zwischen Anhängern von Nationalteams und Klubfans aus?

Das ist von Land zu Land verschieden. Italien zum Beispiel hat eine sehr fragmentierte nationale Realität. Man identifiziert sich mit seiner unmittelbaren Heimat und ist vor allem seinem lokalen Verein verbunden. Eine Reihe von Hardcore-Fans lehnt die Nationalmannschaft gänzlich ab, da Spieler von Klubs dabei sind, die sie hassen. Zu internationalen Spielen gehen nur die so genannten sportivi. Das sind Leute, die mehr auf den Event als auf den Fußball selbst stehen, also keine wirklichen Fans. Deshalb sind bei internationalen Spielen auch so viele Frauen, viel mehr als bei nationalen Spielen.

Wie ist die Situation in England?

In England ist das anders. Engländer habe einen starken Bezug zu ihrem Team. Vielleicht weil es eine der wenigen Gelegenheiten ist, wo wir nicht mit Schotten, Iren und Walisern zusammengewürfelt werden. Dass es in Portugal keine erwähnenswerten Ausschreitungen englischer Fans gegeben hat, hängt wahrscheinlich damit zusammen, das die Polizei dort einen guten Job gemacht hat.

Hellas Verona: Mythos und Wirklichkeit

"Hellas hat eine sehr starke und etablierte Fanbasis. Als das Team die letzten vier Spiele gewinnen musste, um nicht abzusteigen, wurden die Massen mobilisiert. Zum letzten Match nach Como sind unglaubliche 6.000 Fans angereist."

Ist das was wir im Fernsehen gesehen haben Teil einer traditionellen Fankultur?

Ich bin sehr skeptisch, was die Massen bei internationalen Spielen betrifft. Abgesehen von zwei, drei Nationen wie England, Holland oder Deutschland, merkt man doch gleich, dass es sich um keine echten Fans handelt. Allein die lustigen Gesichtsbemalungen. Diese Leute bilden keine loyale Gemeinschaft wie zum Beispiel die Fans von Hellas Verona es tun. Der Fußball bei den Spielen ist teilweise großartig, aber die Stimmung ist nicht vergleichbar mit den Emotionen, die freiwerden, wenn zum Beispiel Verona gegen den Abstieg spielt.

Stichwort Verona. Das Team kratze gerade noch die Kurve um nicht in die Serie C abzusteigen. Wie ist die Stimmung innerhalb der Fans der Gialloblù?

Hellas hat eine sehr starke und etablierte Fanbasis. Als das Team die letzten vier Spiele gewinnen musste, um nicht abzusteigen, wurden die Massen mobilisiert. Nach drei mickrigen Punkten aus zwölf Spielen, haben wir zum Schluss alle vier ausständigen Spiele gewonnen. Zum letzten Match nach Como sind unglaubliche 6.000 Fans angereist. Also die Brigate ist nach wie vor präsent. Das Problem im Moment ist, dass der Präsident angekündigt hat zurückzutreten, aber niemand den Klub niemand kaufen will. Es gibt also jede Menge Unsicherheit vor der neuen Saison.

Die Fans von Hellas sind seit Jahren als gewalttätiger Haufen von Rechtsextremen verschrien. Worin sehen sie den Grund? Und hat sich etwas verändert seit Hellas in der zweiten Liga spielt?

Ein Grund für den schlechten Ruf ist, dass einige Fangruppen in der Vergangenheit in der Tat ziemlich rassistisch waren. Auf der anderen Seite muss man sich Veronas Stellung innerhalb Italiens vergegenwärtigen. Die Städte hier attackieren sich gegenseitig und schreiben sich Charaktereigenschaften zu. Es ist eine Art italienischer Mythos, dass Verona der Kern des Rassismus ist. In Wirklichkeit hat Verona verglichen mit anderen Städten fast den höchsten Anteil an Immigranten und es gibt keine rassistische Gewalt. Durch den Abstieg in die Serie B hat sich nicht viel geändert. Es sind ungefähr 5.000 Leute in der Kurve. 200 bis 300 Fans brüllen rassistische Gesänge, während sie vom Rest nieder gepfiffen werden. Es ist schwer zu sagen, inwiefern diese Form von Rassismus Teil einer Provokation oder wirklicher Hass gegen Fremde ist. Hellas hat jetzt einen schwarzen Verteidiger. Wenn er trifft, läuft er zu den Fans und wird gefeiert. Fakt ist: Das Stadion fungiert als eine Art zona franca, wo ansonsten nicht akzeptable Dinge gebrüllt werden können. Egal ob obszön, verletzend oder rassistisch.

Das Buch: Mittendrin statt nur dabei

»Ich war nie ein beobachter, ich bin ein Fan.«

Als Sie die Recherchen für Ihr Buch begannen, haben Sie da gewusst, was auf Sie zukommt?

Ich habe schon jahrelang eine Saisonkarte bei Hellas. Und ich war auch schon vor meinem Buch bei einigen Auswärtsspielen mit dabei. Ich glaubte zu wissen, auf was ich mich einlassen werde. Aber im Endeffekt kam es doch anders. Wenn du dir Woche für Woche alle Spiele anschaust, bestimmt Fußball über kurz oder lang dein ganzes Leben. Es wie eine Droge. Du denkst an nichts anderes mehr, hast die Schlachtgesänge immer im Ohr. Jedes Wochenende geht drauf. Vor allem in Italien, wo die Anreisen zu Auswärtsspielen sehr lang sein können. Ich habe fünf Trips über 800 km mitgemacht und weitere fünf über 500 Kilometer. Und das alles in alten, klapprigen Bussen. Das geht natürlich an die Substanz.

Hatten Sie keine Probleme innerhalb der Brigate Gialloblù akzeptiert zu werden?

Das war im Prinzip kein Problem. Die Fans der Brigate sind ein bunter Haufen. Es gibt Gruppen, die sehr aggressiv sind und Ärger suchen. Es gibt aber auch genug andere, die sich von all dem fern halten. Und es gibt Leute, die während eines Wochenendes ihr Verhalten ständig ändern.

Hatte Sie die Rolle eines Beobachters inne oder haben Sie Ihr Buch aus der Sicht eines Fans geschrieben?

Ich war nie ein Beobachter. Ich bin einfach nur Fan. Ich will das Team gewinnen sehen. Das Buch hätte ich niemals geschrieben, wenn ich kein Anhänger von Hellas wäre.

Wie hat die Brigate auf Ihr Buch reagiert?

Die Mehrheit der Fans liebte das Buch. Es war das erste Mal, dass sie so beschrieben wurden, wie sie wirklich sind und dass sie ernst genommen wurden. Und es war sicher auch das erste Mal, dass jemand gesagt hat, wie ironisch und durchaus lustig die Jungs sein können. Wenn ich in die Kurve komme, werde ich nach wie vor von allen freundlich begrüßt. Nur eine kleine Gruppe junger Kids hat mich kritisiert, weil ich genau geschrieben habe, was die Leute gesagt haben. Dabei habe ich im Buch die Namen geändert, also was soll das Ganze. Wirklich kritisiert wurde ich hingegen von der Stadtgemeinde. Es kam anscheinend nicht gut an, was ich über die Presse und die Polizei geschrieben habe.

In Ihrem Buch kommen rassistische Äußerungen von Verona Fans vor, die man außerhalb der Stadien kaum hört. Ihre Erklärung: Das Verhalten der Fans ist ein Mittel zur Provokation. Glauben Sie wirklich, dass das die einzige Motivation ist? Oder wird der Fußball als Krücke genutzt, um Fremdenfeindlichkeit und Rassismus ungestraft auszuleben?

Das führt uns direkt in das Herz der Frage, was Fantum wirklich ist. Fans bilden eine lokale und geschlossene Gemeinschaft. Sie glauben, sie befinden sich im Krieg. Fans sind Fundamentalisten. Aber zum Teil ist das nur Show und es passiert in der Parallelwelt von Fußballstadien. Es ist so, als hätten wir einen speziellen Raum erfunden, wo man nach Lust und Laune alte und gefährliche Meinungen brüllen kann, ohne die Welt da draußen wirklich zu verändern. Wie wenn man sich für ein Wochenende in einen Taliban verwandelt. Xenophobie ist eine von diesen Emotionen, die typisch sind für geschlossene Gemeinschaften. Deshalb tendieren Rassismus und Stadien zueinander. Sobald aber Immigranten Teil der Gesellschaft werden, wie es zum Beispiel in einigen Gegenden in England schon der Fall ist, hört das von selber auf. Das zeigt sich auch hier in Italien, wo es schwarze Teenager gibt, die hier aufgewachsen sind und lokalen Dialekt sprechen. Das macht sich auch im Stadion vermehrt bemerkbar. Man sieht vereinzelt schon Fangruppen mit schwarzen Kids. Das Problem wird sich irgendwann von selbst lösen. Aber natürlich nicht gleich morgen früh.

Die Gewalt: Relativ und hausgemacht

Einmal abgesehen von Hellas. Wie ist es um die Ultrà-Bewegung in Italien bestellt? In welche Richtung bewegen sich die Gruppen? Nimmt die Gewalt und der Rassismus in und außerhalb der Stadien zu und wie hat sich diese Subkultur in den letzten Jahren verändert?

Schwer zu sagen. Ich bin da nicht wirklich ein Experte, sondern nur, einer der zu Spielen geht. Aber sagen wir so: Seit Fußball vom Fernsehen übernommen wurde, gibt es mehr und mehr die Notwendigkeit, die Spiele als »gesunden Sport« in die Wohnzimmer zu transportieren und nicht als seltsames Gesellschaftsritual. Deshalb agiert die Polizei in den Stadien gegen echte Fans immer aggressiver und es gibt mehr Repressionen. Die Polizei ist in Italien ein echtes Problem und oftmals Schuld an gewalttätigen Ausschreitungen. Die Jungs sind nicht gut genug ausgebildet und werden nicht kontrolliert. Dazu kommt, dass sie niemand überwacht. Filmaufnahmen von unabhängigen Beobachtern sind nicht erlaubt. Es ist im Interesse der Polizei, sich in der Öffentlichkeit als Opfer von Gewaltausbrüchen zu verkaufen. Deshalb ist die Frage schwer zu beantworten, ob die Gewalt in den Stadien zugenommen hat. Geht es nach den Medien, heißt die Antwort ja. Aber ich sehe das ganze nicht so dramatisch. Ich nehme meine 10 Jahre alte Tochter zu den Spielen mit, ohne mir groß Gedanken zu machen. Was den Einfluss der Fans betrifft, ist das abgebrochene Römer Derby zwischen Lazio und Roma ein sehr gutes Beispiel. Das war ein ganz außergewöhnliches Ereignis. Im Stadion machte das Gerücht die Runde, das die Polizei am Tod eines kleinen Jungen Schuld war. Das ganze war vielleicht eine bewusst lancierte Falschmeldung, mit der die Fans es schafften, dass das Spiel abgebrochen wurde. Der Hintergrund: Das Match wurde Sonntagabend zur besten Sendezeit für Pay-TV-Abonnenten angepfiffen. Der Sieg der Fans ließ die Bildschirme schwarz bleiben und machten den Vereinspräsidenten deutlich, dass sie in ihren Entscheidungen auch auf die Fans im Stadion Rücksicht nehmen sollten.

Es gibt von seitens diverser Organisationen und auch von den Vereinen eine Reihe von Initiativen, die Gewalt in den Stadien einzudämmen. Mit zum Teil drastischen Mittel, wie zum Beispiel mehr Polizei, Videoüberwachung, Stadionverboten etc. Glauben Sie, dass das der richtige Weg ist?

Es ist in Ordnung, wenn man offensichtlich gewalttätige Fans aus Stadien entfernt. Auf der anderen Seite ist Vorsicht geboten. Die typisch britische Stadionatmosphäre wurde durch eine Reihe von Repressionen komplett zerstört. Mittlerweile kannst du in England nicht einmal mehr aufspringen und »Fuck you Ref« schreien, ohne dass dich ein Steward zurecht weist und androht, dich aus dem Stadion zu schmeißen. Das ist einfach lächerlich. Man sollte sich vor Augen führen, dass die Gewalt in England, während sie in den Stadien eliminiert wurde, in den Straßen gleichzeitig enorm zugenommen hat. Vielleicht wäre es besser, einen ritualisierten Konflikt rund um Fußballspiele zuzulassen. Denn ein Fan, der durch Sicherheitskontrollen geschleust wird, kann keine gefährlichen Waffen tragen. Ein Gangmitglied auf der Straße kann das ohne weiteres. Es hängt alles davon ab, ob man daran glaubt, das ein gewisses Maß an kollektiver Gewalt in einer Gesellschaft vermeidbar ist oder nicht.

Gibt es in Italien auch Ultras, die sich nicht mit gewalttätigen Gruppen in einen Topf werfen lassen. Also Fanbewegung, die ihre Wurzeln in den Siebziger haben, wo man in den Stadien auch gegen die Konsumgesellschaft, Korruption und Fremdenfeindlichkeit protestierte.

Den ganzen Politkram darf man nicht so ernst nehmen. Was wirklich zählt sind wir, unsere Gruppe und das Spiel. Der Rest ist nur rhetorisch. Das sind alles nur Modeerscheinungen, die kommen und gehen.

Wo sehen Sie die italienische Ultrà-Bewegung im Vergleich mit anderen Fanmodellen in Europa?

Ich kann das nicht wirklich beantworten. Man kann sie sicher nicht mit den englischen Fanbewegungen in den 80er- und 90er-Jahren vergleichen. Die Engländer waren gewalttätiger und weniger politisch. Die Italiener sind farbenfroher, theatralischer und dabei weniger gefährlich.

Abschließend ein kleiner Schwenk weg von Italien. Was denken Sie über den österreichischen Fußball?

Ich erinnere mich ein Spiel von Salzburg gegen Inter. Salzburg verlor unglücklich, nachdem der Ball einige mal an den Torstangen mit nur einem Schuss hin und her pendelte. Das war ein wirklich gutes Team. Auch die Nationalmannschaft hatte ihre Momente. Die Österreicher sind sicher nicht schlechter, als das was die Griechen bei dieser verrückten Endrunde gezeigt haben.

Das Interview führte ERIC PHILLIPP, Fotos: TIM PARKS

Präsentationsparty
Freitag, 17. September 2004
PULSE (Schottenfeldgasse 3, 1070 Wien)
Beginn: 20 Uhr

Inhalte des neuen Hefts:

Schwerpunkt Ultras
HISTORISCH – Die bewegte Phänomenologie einer Fankultur
VERNETZT – Rebellen des modernen Fußballs
POLITISCH – Verbindungen zwischen Fankurve und Straßenkampf
INTERVIEW – Bestseller-Autor und Verona-Fan Tim Parks
KURVENPORTRÄTS – Livorno, Fiorentina und Marseille
ÖSTERREICH – Die Mentalità der Tiroler, Salzburger und Rapidler

Außerdem: ENTHÜLLUNG – Was verbindet Michael Konsel und Sylvester Stallone?
KEMPES-DOKU – Regisseur Andreas Weber auf den Spuren des Weltmeisters FANATIKER – Der berüchtigte Boca-Capo Rafael di Zeo
AUSTRIA SOAP – Frank Stronach verschreibt sich eine Apotheke
LOST GROUND – Die Pollack-Wiesn in Wien-Floridsdorf

Der neue »ballesterer fm« ist in diversen Verkaufstellen sowie donnerstags und sonntags zwischen 17 und 22 Uhr im Redaktionslokal (Schönbrunnerstraße 86, 1050 Wien) erhältlich.