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Könnte auch im Schwarzwald sein, ist aber im Urwald von Venezuela

Foto: Archiv
Mit jedem Meter wird es kühler. In Serpentinen schlängelt sich der schmale Weg hinauf von Caracas in die Berge, weg von der schwülen venezolanischen Hauptstadt. Nach 54 Kilometern, für die man allerdings eineinhalb Stunden braucht, breitet sich auf 1800 Metern Höhe ein Dorf aus, das so gar nicht in die üppige tropische Landschaft passen will: Fachwerkhäuser mit Butzenscheiben, rote Ziegeldächer und Schilder mit deutschen Namen im Bauernmalereistil tauchen auf.

Es scheint, als sei dies eine Fata Morgana in den Tropen, als hätte der Schwarzwald mit seinen pittoresken Häusern einfach seine geografischen Koordinaten geändert. Wer das wuchtige Tor am Ortseingang passiert, dessen Erstaunen nimmt Meter für Meter zu. Hier gibt es in pittoresken Fachwerkhäusern ein "Café Donau" und sogar mit Trachtenmännchen bemalte Mülleimer, die auch ohne Verzierung in diesen Breiten eine Kuriosität darstellen. Mit der Entfernung von Europa schwindet auch die Bedeutung regionaler Besonderheiten: Wiener Mehlspeisen und Berliner Fleischspezialitäten sowie Tiroler Hüte und Kärntner Märsche werden kurzerhand in dem alpinen Schmelztiegel vermischt.

Hinter Ständen stehen Verkäuferinnen in weißen, gestärkten Rüschenschürzen und mit geflochtenen Zöpfen. Sie verkaufen Heidelbeeren, Marillen und Erdbeeren, die hier als exotische Früchte gelten. Außerdem wird "Marmelade wie bei Muttern" angeboten, Schwarzbrot und Kuchen nach alten Hausrezepten.

Noch größer wird das Erstaunen, wenn man eines der Lokale betritt, wie das "Rebstock" an der Hauptstraße. Wuchtige Holzbalken durchziehen das Restaurant, blau-weiß karierte Decken zieren die Tische, und an den Wänden werden Szenen aus dem Landleben in den Alpen gezeigt. Hier treten die Kellnerinnen im Dirndl und die Kellner in der Krachledernen auf, auch wenn keiner von ihnen je einen Fuß nach Österreich oder Süddeutschland gesetzt hat. Hier gibt es eine "Schlachtplatte Deutsch", die es mit jeder Schlachtplatte in einem Berliner Restaurant aufnehmen kann: hausgemachte Würste, "Eisbein" und Schweinsbraten, dazu Sauerkraut und ein frisches Pils - natürlich nach dem deutschen Reinheitsgebot gebraut. Zum Nachtisch wird Apfelstrudel serviert, für den es keine passende Übersetzung ins Spanische gibt.

Wer dann durch die geöffneten riesigen Fenster, durch die frischer Wind hereinbläst, auf die grünen Hügel und die Schwarzwald-Häuser schaut, der hat Schwierigkeiten, sich bewusst zu bleiben, wo er sich befindet. Selbst die Grundstücksgrenzen sind feinsäuberlich mit Mauern und Zäunen gekennzeichnet und werden von Gartenzwergen bewacht. Und die Glocke der Kirche, die St. Martin geweiht ist, schlägt pünktlich zu jeder vollen Stunde.

Die Heimat zu konservieren haben sich jene 145 Männer, 96 Frauen und 117 Kinder zum Ziel gesetzt, die 1843 von Kaiserstuhl, Hessen und Mecklenburg hierher kamen. Sie wurden mit dem Versprechen, hier könnten sie rasch zu Reichtum kommen, in die Tropen gelockt, fanden aber nach einem kräftezehrenden Marsch von der Küste durch die Kordilleren nur eine riesige, brandgerodete Fläche vor. Also gingen sie daran, in dieser Gegend, ein Abbild ihrer Heimat in den Tropen zu errichten.

Mehr als ein Jahrhundert lang lebten die deutschen Siedler hier in völliger Isolation, nur wenige Kilometer von der Hauptstadt ihres Gastlandes entfernt. Es gab eigene Schulen, eine eigene Gerichtsbarkeit und kaum Kontakt zur Außenwelt. Geheiratet wurde innerhalb der Kolonie, die den Namen ihres Gründers Manuel Felipe Tovar trägt. Erst als während der Nazizeit faschistische Parolen der deutschen Siedler auch Caracas erreichten, wurde das Dorf der venezolanischen Verwaltung und Justiz unterstellt und die Deutschen zu Venezolanern.

Die Kolonie blieb aber abgeschieden. Erst als in den 70er-Jahren eine geteerte Straße gebaut wurde, wurde die Isolation aufgebrochen: Die Colonia Tovar und ihre Bewohner wurden ein Forschungsobjekt für Ethnologen, da es außerhalb Deutschlands keine derart abgeschottete Siedlung, in der auch sämtliche Bräuche und Riten bewahrt wurden, gab. Die Tovareños begannen, ihre landwirtschaftlichen Produkte auch an Venezolaner zu verkaufen. Und mit der Straße kamen auch Touristen und das Geschäft in die Schwarzwald-Idylle. Der Tourismus sichert den Tovareños inzwischen ein gutes Auskommen. Die Kolonie hat das höchste Pro-Kopf-Einkommen des Landes und null Prozent Arbeitslosigkeit.

Es ist schon ein bisschen wie ein alpines Disneyland: Im "Cafe Muhstall" spricht die Wirtin perfekt Deutsch. Am Abend dringen Polkamusik und Walzerklänge auf die Straße. Es scheint, als wolle man hier in den Tropen deutscher als in Deutschland sein: Mit fast kindlicher Begeisterung zieht Laura Jorgens in ihrem Geschäft eine Uhr nach der anderen auf, bis ihr Geschäft von vielstimmigen Kuckucksrufen erfüllt wird. Den Schwarzwald hat sie allerdings noch nie in ihrem Leben gesehen.

Kein Wunder, dass dieser für Europäer, Japaner, Amerikaner und Venezolaner gleichermaßen höchst exotische Ort auch Schriftsteller zu Inspirationen verleitet. Colonia Tovar diente der chilenischen Schriftstellerin Isabel Allende, die in Venezuela im Exil gelebt hatte, als Vorbild für ihren imaginären Ort im Roman "Eva Luna", in dem eine der beiden Hauptfiguren der Österreicher Rolf Carlé ist. Ihn verschlägt es in dieses "Dorf aus dem Wunderland, ein Dorf wie in eine Kristallkugel eingeschlossen, wo die Zeit stehen geblieben und die Geographie überlistet worden ist". Carlé "glaubte mehrere Monate lang, der Unterschied zwischen der Karibik und den Ufern der Donau sei ja nicht gerade beträchtlich".

Aber wenn man die gewundene Straße hinunter nach Caracas fährt, dann ist man rasch wieder in der venezolanischen Realität, dem Chaos der Vier-Millionen-Metropole und der Schwüle. Und Colonia Tovar scheint erst recht wie eine Fata Morgana. (Alexandra Föderl-Schmid/Der Standard/rondo/17/9/2004)