Als Ödipus im griechischen Theben ankommt, treibt dort eine Sphinx ihr Unwesen. Nur ein besonders intelligenter Mensch sei imstande, ihr zu entkommen, heißt es. Um nicht von ihr gefressen zu werden, müsse man folgendes Rätsel lösen: "Was geht am Morgen auf vier, am Mittag auf zwei und am Abend auf drei Beinen?"

Das Beispiel aus der griechischen Mythologie zeigt: Der Wunsch nach Messkriterien, mit denen die Intelligenz eines Menschen objektiv festgestellt werden kann, ist fast so alt wie die westliche Kulturgeschichte. Der Ansatz der Sphinx, Ödipus durch ein nur mit Vorstellungsvermögen und logischem Denken zu lösendes Rätsel auf die Probe zu stellen, war bereits relativ modern.

Der erste Intelligenztest, der diesen Titel im heutigen Sinn verdient, wurde 1905 vom französischen Psychologen Alfred Binet im Auftrag des Pariser Bildungsministeriums entwickelt. Gemeinsam mit seinem Kollegen Theophile Simon entwarf er ein Verfahren, um mögliche Lernbehinderungen bei Kindern objektiv zu erkennen. Der Test überprüfte vor allem die logischen und verbalen Fähigkeiten: So wurden den Kindern beispielsweise Bilder gezeigt, auf denen sie Sinnwidrigkeiten erkennen sollten. Außerdem mussten sie Sätze ergänzen oder nachsprechen. Um zu beurteilen, ob ein Kind seinem Alter entsprechend entwickelt war, verglich Binet seine Leistung mit dem durchschnittlichen Vermögen von Gleichaltrigen. Er prägte den Begriff des Intelligenzalters, das je nach geistiger Entwicklung über oder unterhalb des Lebensalters liegen konnte.

Den "Intelligenzquotienten" (IQ) erfand der deutsche Psychologe Wilhelm Stern, der die Entwicklung in verschiedenen Altersgruppen zum besseren Vergleich quantifizieren wollte. Er definierte den IQ als Intelligenzalter geteilt durch Lebensalter mal hundert. Ein durchschnittlich entwickeltes Kind bekam also einen IQ von 100, ein wie ein Zehnjähriger entwickelter Achtjähriger hätte demnach einen IQ von 125.

Die heute gebräuchlichen Tests arbeiten ebenfalls mit Durchschnittswerten: Ein Test gilt dann als standardisiert, wenn ein Großteil der Probanden eine ungefähr gleich bleibende Anzahl der Fragen lösen kann. Ihrer Leistung wird die Zahl 100 zugeordnet. Weit nach oben und unten gibt es bei einem seriösen Intelligenztest nur selten Abweichungen. Die meisten Tests können einen IQ von über 130 nur mehr als annähernden Wert festlegen, ab 145 kann überhaupt keine Zahl mehr errechnet werden.

"Der IQ ist nur ein Anhaltspunkt, der nicht überinterpretiert werden darf", betont Renate Birgmayer, beim Hochbegabten-Verein "Mensa" zuständig für Intelligenzförderung und Obfrau des Vereins "Thinkpäd", der sich "erfolgreichem Lernen und neuem Denken" verschrieben hat.

Sie persönlich entschloss sich zu einem Intelligenztest, weil sie wissen wollte, ob sich ihr spielerischer Erfolg in Schule und Studium auf eine höhere geistige Leistungsfähigkeit zurückführen ließe. Und tatsächlich: Ihr wurde ein IQ von über 130 attestiert.

Ida Fleiß, langjährige Chefpsychologin von Mensa Deutschland, ergänzt, dass sich der Intelligenzbegriff, und damit auch der Fokus der Tests, in den vergangenen Jahren geändert hat: Mit dem Wandel zur Informationsgesellschaft haben Kommunikations- und Teamfähigkeit stark an Bedeutung gewonnen. "Intelligent ist nicht mehr der, der viel weiß, sondern der, der viel kann, sich gut verkauft und gut mit anderen umgehen kann. Die Leistung, das Ergebnis, der Erfolg zählen, nicht mehr nur eine bestimmte Fähigkeit", erklärt Fleiß.

Auch das Ergebnis hat sich verändert: Die Tests, mit denen Renate Birgmayer möglichen schulischen oder beruflichen Problemen auf den Grund gehen möchte, spucken nicht mehr nur eine Zahl aus, sondern ermöglichen durch Teilleistungsprofile eine genauere Analyse. Auch Ingrid Preusche vom Wiener Institut für Psychologie betont, dass die Intelligenzmessung dann sinnvoll sei, wenn sie eine Aufschlüsselung von Stärken und Schwächen ermögliche. Darauf aufbauend könne man individuelle Förderprofile ausarbeiten. Am institutseigenen Testzentrum werden deshalb Allgemeinwissen und Wortschatz genauso abgefragt wie Textrechenaufgaben und Bildgeschichten, die in die richtige Reihenfolge gebracht werden müssen.

Wie genau Intelligenztests messen, ist nach wie vor umstritten. Ingrid Preusche meint, dass sich bei den am Institut eingesetzten Tests niemand besser darstellen könne, als er wirklich sei. Gezielt unter dem eigenen Wert abzuschneiden sei natürlich möglich. Dass hohe Intelligenz nicht immer erwünscht ist, bestätigt auch Renate Birgmayer: Zu sehr würden sich hochbegabte Jugendliche vor einer Stigmatisierung als "Streber" fürchten. "Manchen ist das Testergebnis sogar peinlich", schildert sie.

Ödipus war seine Intelligenz sicherlich nicht unangenehm, schließlich rettete ihm die richtige Antwort das Leben: Das Wesen, das morgens auf vier, mittags auf zwei und abends auf drei Beinen geht, ist der Mensch: Als Kind krabbelt er, erwachsen steht er auf zwei Beinen und im Alter stützt ihn der Stock. (Elke Ziegler/DER STANDARD, Print-Ausgabe, 18./19. 9. 2004)