Exklusiv, Aufreger, Premiere: Dies ist der erste Artikel über - na, egal über was. Wie Darrell Huff gesagt hat: "Fast jeder kann für sich beanspruchen, in irgendetwas der Erste zu sein, wenn es ihm kein besonderes Anliegen ist, worin."

"Der Erste" klingt jedenfalls hieb- und stichfest und ist ein kleines Beispiel dafür, wie unsere Zahlen- bzw. Charts-Gläubigkeit unseren kritischen Verstand einschläfert. Huff hat viele weitere und viel vertracktere Exempel dafür gesammelt, wie man mit Statistiken die Wahrheit zurechtbiegen kann. Vor 50 Jahren erschien sein Buch How To Lie With Statistics.

Das war zu einem Zeitpunkt, als Kurven, Tortengrafiken und andere Symbole tatsächlicher oder vermeintlicher Objektivität noch in den Kinderschuhen steckten. Kein Vergleich mit der inzwischen eingetretenen Allgegenwärtigkeit raffiniertester Darstellungen von Sachverhalten, die zu Zahlenvergleichen geronnen sind. Jeder kann sie am Computer in beliebig einstellbarer Deutlichkeit erzeugen, keiner kommt an ihnen vorbei, seit sich in allen Medien die Meinung durchgesetzt hat, dass ein Bild (zwei zerschnittene Torten, drei sich biegende Balken usw.) mehr sagen als alle Worte zum Thema. Dass unsere gesamte Kommunikation, die Unterhaltungselektronik und alle verwandten Bereiche digital sind, also ebenfalls auf diskrete Größen reduziert, hat zwar ursächlich nichts mit dem Glauben an Statistiken zu tun, verstärkt ihn aber atmosphärisch - als weiteres Indiz der Zahlenmacht.

Auch heute aber gibt jeder wohlgesonnene Statistikprofessor seinen Studenten das alte Büchlein als Ratgeber auf den Studienweg mit (zumindest in angelsächsischen Ländern; dort erlebt der gemeinsam mit dem Biochemiker Irving Geis verfasste Band von knapp 140 Seiten ständig Neuauflagen und hat zurzeit bei Amazon den beachtlichen Rang 2539 - wobei das Buch diese Zahl gleich einmal auf ihre Bedeutung hinterfragen würde . . . Die deutsche Fassung, 1956 erstmals erschienen, ist hingegen vergriffen). Das meiste, was es zur Manipulation von Zahlen zu sagen gibt, war schon bei der Erstveröffentlichung evident, "die Geheimsprache der Statistik", schrieb Huff damals, werde verwendet, "um Sensationen zu erzeugen, aufzubauschen, zu verwirren und über Gebühr zu vereinfachen."

Geht es um Lügen? Selten sind die genannten Daten per se falsch (außer in den im letzten ALBUM diskutierten bewussten Fälschungen). Oft ist vielmehr der Wunsch im Spiel, den dürren Fakten etwas nachzuhelfen. "Truth well told" nennt eine Werbeagentur ihr Bemühen, die Produkte ihrer Kunden in ein schmeichelhaftes Licht zu rücken (als ob eine umfassende Darstellung eine weniger gut erzählte Wahrheit wäre): Entsprechend angewandte Statistik tut nichts anderes und wird dafür ja gerne von der Werbung eingesetzt.

Das kennt man und glaubt, man hat es zu ignorieren gelernt. Wer heute Inserate aus den Fünfzigern sieht, in denen "neun von zehn Ärzten" Camel Zigaretten empfehlen, der lacht über den Zeitgeist und die Unverfrorenheit. Und in einem so eklatanten Fall macht er sich vielleicht Gedanken darüber, wie diese Statistik zustande gekommen ist.

In den meisten Fällen ist die Situation komplizierter, die Kosmetik raffinierter. Die Frage aber ist genauso berechtigt: Wie kam der Forscher, Politiker, Produzent zu seinem Resultat? Sie alle haben ein Interesse daran, ihre Version der Wirklichkeit zu fördern. Dem sollte, findet Huff, eine entsprechende Skepsis gegenüberstehen.

Sie beginnt mit der Frage nach der Quelle. Sie garantiert noch nichts, aber ohne sie braucht man gar nicht erst weiterlesen. Eine Öffentlichkeitsarbeiterin, die sich in mehreren Aussendungen auf eine britische Untersuchung über den gesundheitsfördernden Wert von Schokolade beruft, aber nicht sagen kann, wo das steht, hat keinen Auftrag (oder rechnet mit besonders dummen Empfängern).

Die zweite Frage ist die nach der Methode. "How does he know?" Wie sind die Ergebnisse zustande gekommen, wer wurde gefragt, wie groß war die Stichprobe, wie groß ist daher die Fehlerquelle? Oder: Wenn von "Durchschnitt" die Rede ist, welches von mehreren möglichen Maßen wurde verwendet? Das geht in Details, die den "durchschnittlichen" Empfänger von statistischem Material kaum interessieren, ohne die aber die Statistik wiederum nicht sinnvoll interpretiert werden kann.

Drittens: Was fehlt? Das Weglassen von störenden Elementen ist eine eigene Kunst an der Grenze zur Lüge. Man beschränkt sich in der Darstellung so, dass das gewünschte Ergebnis klar herauskommt. Manchmal genügt es, den Vergleich wegzulassen, und schon steht die eigene Leistung viel eindrucksvoller da. "98 % koffeinfrei" klingt besser, wenn man nicht dazuschreibt, dass die koffeinhaltigen Konkurrenzgetränke den Wirkstoff auch nur zu drei Prozent enthalten, somit "97% koffeinfrei" sind.

Das hat bereits mit der vierten Frage zu tun, ob jemand das Thema gewechselt hat. Das heißt, man verschiebt den Bezugsrahmen so lange, bis das Zahlenmaterial beeindruckt. Ein banales Beispiel: Der Anstieg von 63 auf 65 Prozent ist nicht viel - es sei denn, man hat eine Grafik, die nur von 60 bis 70 reicht. Nicht jeder Wechsel ist so leicht zu durchschauen.

Huffs Katalog gipfelt in der Frage, ob das Ganze Sinn ergibt. Auch wenn alle anderen Voraussetzungen erfüllt sind, wenn die Methode stimmt und der Bezugsrahmen nicht verzerrt ist, bleibt immer noch offen, ob etwas Vernünftiges gefragt worden ist und ob daher die Ergebnisse brauchbar sind. GIGO, hieß es zu Beginn des Computerns, Garbage In, Garbage Out, das galt natürlich schon vorher und gilt noch heute. Ein statistischer Zusammenhang zwischen Marihuana-Konsum und Schuhgröße heißt noch nicht, dass das eine vom anderen abhängt. Kausalitäten mit Zahlen herbeizuzaubern, wo keine sind, ist einer der beliebtesten Tricks der Statistik-Jongleure.

Sind es Lügen? Sagen wir, es sind von Partikularinteressen geleitete Einfärbungen, die sich der Wissenschaft bedienen, um ihren Standpunkt mit dem Mantel der Objektivität zu schmücken. Also der ganz normale Alltag. (Michael Freund/DER STANDARD, Print-Ausgabe, 18./19. 9. 2004)