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Eines der wichtigsten politischen Ziele des türkischen Premiers Tayyip Erdogan ist der EU-Beitritt seines Landes. Derzeit weht ihm dabei aber von Seiten der EU ein strenger Wind entgegen.

Foto: . REUTERS/Yves Herman
Brüssel/Wien - Welche Auswirkungen hätte der EU-Beitritt des großen und armen Landes Türkei? Das wird in mehreren Studien untersucht. Der eine Aspekt ist die Größe: Derzeit hat die Türkei 70 Millionen Einwohner, 2010 werden es 83 sein - damit wäre die Türkei neben Deutschland (82 Millionen Einwohner) größtes Mitgliedsland. 30 Prozent der EU-Bürger würden in der Türkei oder in Deutschland leben.

Diese Größe hat Auswirkungen auf die Machtverteilung in der EU. In einer EU-28 (mit den Mitgliedern Türkei, Bulgarien und Rumänien) hätten Deutschland und die Türkei je 14,5 Prozent der Stimmen im Rat. Zum Vergleich: In der EU-25 hat Deutschland heute ein Stimmgewicht von 18,1 Prozent. Wenn die EU das Prinzip der in der neuen Verfassung festgeschriebenen doppelten Mehrheit behält, kann kein einzelner Staat dominieren. Nicht einmal Deutschland und die Türkei gemeinsam könnten ein Gesetz blockieren - dafür bräuchten sie noch einen dritten großen Staat.

Im Europaparlament würde die Türkei bei einem Beitritt im Jahr 2015 exakt 82 Sitze bekommen, genauso viele wie Deutschland. Das gibt diesen beiden Staaten eine Stimmenanzahl von 11,2 Prozent. Das nächstgrößere Land wäre Frankreich mit 64 Sitzen und einem Stimmgewicht von 8,7 Prozent. Derzeit, also 2004, hat Deutschland 13,5 Prozent der Stimmen.

Wie viele Türken würden in andere EU-Länder zuwandern? In einer Studie des Brüsseler Thinktanks Friends of Europe wird ein über Jahre verteiltes Einwanderungspotenzial von 2,9 Millionen Menschen angenommen. Pro Jahr wären das 225.000 türkische Migranten. Diese 2,9 Millionen Zuwanderer wären 0,5 Prozent der 570 Millionen EU-Bürger des Jahres 2025.

Die Größe der Türkei treibt auch die Kosten eines Beitritts in die Höhe. 32 Prozent der Türken arbeiten in der Landwirtschaft, in der EU-25 liegt der Schnitt bei 5,4 Prozent (Polen: 19,6 Prozent). Die türkische Agrarfläche ist mit 38,8 Millionen Hektar fast genauso groß wie die der zehn Erweiterungsländer. In der Studie der Friends of Europe wird hochgerechnet, was die Türkei an Agrar- und Strukturförderungen bekommen würde. Unter der Annahme, dass die Türkei gleich behandelt wird wie die zehn jüngsten EU-Mitglieder, hätte die Türkei in den ersten drei Mitgliedsjahren (2015 bis 2018) Anspruch auf 45 Milliarden Euro. Das wären 15 Milliarden Euro pro Jahr - ein Großteil davon an Strukturförderungen, fast vier Milliarden an Agrarförderung.

Arme Nettozahler

Die Deutsche Bank Research befindet in einer brandneuen Untersuchung (August 2004), dass die Erweiterungen die Gewichte in der Union stark in Richtung Kohäsionsländer verschieben (siehe Grafik). In einer EU-28 hätten die Nettozahler nicht einmal mehr eine Sperrminorität im Ministerrat, die "armen" Länder könnten sich ungehindert bedienen. "Die Bedeutung der Kohäsionsländer überzeichnet bei weitem ihre wirtschaftliche Bedeutung in der EU", ist in der Studie zu lesen.

Die Banker fragen sich auch, ob die Kopenhagener Kriterien (institutionelle Stabilität, funktionsfähige Marktwirtschaft und die Übernahme der Verpflichtungen und Ziele der politischen und wirtschaftlichen Union) grundsätzlich konkret und umfassend genug für die Beurteilung der Beitrittsreife eines Landes sind. Die quantitativen Maastricht-Kriterien könnten ein Vorbild für messbare Beitrittskriterien sein. (Eva Linsinger, Christoph Prantner/DER STANDARD, Printausgabe, 22.9.2004)