Interpol
Antics
(EMI)

Foto: EMI

Die New Yorker Band Interpol schöpft ihre Kunst auch auf dem zweiten Album "Antics" aus nordenglischen Industrieruinen der späten 70er-Jahre. Depressiver Post-Punk als Pop des dritten Jahrtausends gedeutet. Eigene Ansätze ausreichend vorhanden.

Das verdiente US-amerikanische Internet-Lexikon "allmusic.com" erstellte anlässlich des Debüts von Interpol, Turn On The Bright Lights aus 2002, eine Versuchsanordnung. Wie viele Wörter würde es wohl brauchen, bis in Zusammenhang mit dem jungen New Yorker Quartett der Name Joy Division fällt? Beim Kritiker von "allmusic.com" brauchte es dazu 16, in unserem aktuellen Fall hat es immerhin 38 gedauert. Das würde einerseits belegen, dass sich die vier Düstermänner aus Brooklyn seit ihren Anfängen 1998 jetzt mit dem neuen Album Antics nicht nur um mehr als 50 Prozent vom Sound ihrer Vorbilder aus dem britischen Manchester der Postpunk-Zeit der späten 70er-Jahre entfernt hätten. Wir erinnern uns, dort wurde damals eine zerrissene, verzweifelte, todtraurige, der Stimme gut Luft, sprich künstlichen Sauerstoff gebende, moll-lastige, atmosphärische Leidens- und Schmerzensmusik gemacht, die in aller bizarren Schönheit den sterbenden Schwan in Industrieruinen gab.

Andererseits würde dies auch bedeuten, dass noch immer ein wesentlicher Anteil der Musik und Texte so klingt, wie man sich eine heruntergekommene Industriestadt im Norden Englands vorstellt, wenn diese über ihr Leid an der Welt zu Rock'n'Roll-Beats singen würde, bevor sie sich so wie der schwer depressive Joy Division-Sänger Ian Curtis im Mai 1980 erhängt: "Can't you see what you've done to me, to my heart and my soul – it's a wasteland now!", heißt es heuer etwa im Song Slow Hands. Der erinnert mit seinem angezogenen Tempo, dem konsequent einen Halbton neben der vorgesehenen Melodie herlaufenden Bass, tonlos gehackten White-Funk-Gitarren und einem wackeligen Disco-in-Fabrikshallen-Fundament tatsächlich an diverse Songs des Joy Division-Klassikers Unknown Pleasures aus 1979. Was auch daran liegen mag, dass Sänger und Gitarrist Paul Banks mit seiner gepressten Baritonstimme auch gar nicht sehr viel anderes machen kann, als vor allem in den getrageneren Passagen an Ian Curtis zu erinnern.

Interpol sind aber keine platten Kopisten. Immerhin nehmen sie sich ihre künstlerischen Einflüsse nicht nur von Joy Division, sondern auch von diversen anderen Bands dieser Zeit. Ganz zu schweigen natürlich von alten literarischen Schwarzhemden-Klassikern wie Jean Paul Sartre oder Albert Camus, deren Schriften man in den Texten immer wieder einmal verbraten kann, wenn es gehaltvoll und ernst werden soll. Und Interpol vertrauen auch mehr auf die Nachstellung von Atmosphäre als auf konkreten Diebstahl von Riffs und Melodien. Sie bringen im Gegensatz zu den Altvorderen auch mehr Gespür für Pop und eingängige Refrains mit: Echo & The Bunnymen, Bauhaus, The Wedding Present, alles, was die Referenzhölle in Zusammenhang mit düsterem Rock und New-Wave-Zeiten begehrt.

Die Vertonung desaströser sozialer, psychischer und meteorologischer Umstände von jungen Menschen in Nordengland vor 25 Jahren mag laut Jens Friebe in der Zeitschrift Intro wohl auch nur für Amerikaner möglich sein. Junge Engländer hätten wohl beim Machen so einer Musik das Gefühl, mit den Eltern auf Urlaub zu fahren. Spätestens ab 16 sollte man das nicht mehr tun. Außer natürlich man heißt Franz Ferdinand, wohnt in Glasgow und geht lieber tanzen als so wie Interpol in den Keller zum Lachen.

Was im Gegensatz zum mehr auf Tempo setzenden Debüt von Interpol jetzt beim ungleich melancholischeren und keyboardlastigeren Antics auffällt, neben der Tatsache, dass auch Joy Division einst 1980 auf ihrem zweiten und letzten Album Closer melancholischer und keyboardlastiger wurden: Das Songwriting gerade bei Titeln wie Evil, Narc oder Slow Hands ist bei Interpol stimmiger, selbstverständlicher, eleganter, wenn auch weniger eingängig und zwingend geworden. (DER STANDARD, Print-Ausgabe, 24.9.2004)