Karikatur: Veenenbos/STANDARD
Mit Ankaras Nachgeben ist für die EU ist damit das letzte Hindernis für Beitrittsverhandlungen vom Tisch.


Zwei Kilometer. So weit kam EU-Erweiterungskommissar Günter Verheugen seinem Gast entgegen. Er fuhr aus dem Brüsseler EU-Viertel in das Nobelhotel Conrad, um dort den türkischen Premier Recep Tayyip Erdogan zu treffen - auf Erdogans Wunsch auf "neutralem Boden".

Dort im Hotel Conrad kam Erdogan dann am Donnerstag Verheugen gleich meilenweit entgegen: Er widerrief vorherige Pläne und erklärte sich bereit, alle Wünsche der EU zu erfüllen. Bereits am Sonntag soll das türkische Parlament zu einer Sondersitzung zusammentreten und die Strafrechtsreform beschließen. Der umstrittene Ehebruchparagraf soll im Strafrechtspaket nicht enthalten sein. Beides waren Auflagen der EU gewesen: Die Union hatte kritisiert, dass Ankara die Strafrechtsform noch nicht verabschiedet hatte - und Ehebruch unter Strafe stellen wollte.

Mit den Zugeständnissen Erdogans ist der Streit zwischen der Türkei und der EU ausgeräumt. Dieser Streit war in den vergangenen Tagen so eskaliert, dass ein "Ja" der EU-Kommission zur Aufnahme von Beitrittsverhandlungen mit der Türkei fraglich schien. Nach dem Treffen vom Donnerstag sind die Hürden für den Weg der Türkei in die EU beseitigt: Es gebe keine Bedingung mehr, die von Ankara erfüllt werden müsse, bevor die EU ihre Empfehlung abgibt, sagte Verheugen.

Jawort erwartet

Am 6. Oktober legt Verheugen der Kommission seinen Bericht über die Türkei vor. Bereits am Donnerstag ließ er wenig Zweifel daran, ob er die Aufnahme von Beitrittsverhandlungen empfehlen wird: "Die Zusicherungen, die ich heute von meinem Freund Erdogan bekommen habe, werden mir erlauben, eine klare Empfehlung abzugeben. Wir konnten für alle noch offenen Probleme Lösungen finden."

Denn auch das zweite Hindernis, das neben dem Strafgesetzbuch in letzter Minute aufgetaucht war, ist für Verheugen gefallen. Bei seinem Türkei-Besuch war er von einer Menschenrechtsorganisation mit dem Vorwurf konfrontiert worden, dass nach wie vor systematisch gefoltert werde. Eine Untersuchungsgruppe der EU-Kommission reiste daraufhin in die Türkei - und kam zu dem Schluss: es gebe keine systematische Folter (siehe Artikel unten).

Nach diesem positiven Ergebnis des Gesprächs mit Verheugen war der Rest des Erdogan-Besuchs in Brüssel fast ein Spaziergang. Er verließ dann auch "neutralen Boden" und begab sich zu EU-Kommissionspräsident Romano Prodi in die EU-Kommission. Als nächstes standen der Präsident und die Fraktionschefs des Europaparlaments auf seiner Gesprächsliste. Erdogan versicherte überall dasselbe: Er werde die "notwendigen Reformen ernsthaft und entschlossen umsetzen".

In der Türkei wurden die Zusagen Erdogans mit Erleichterung aufgenommen. Manche Bedenken innerhalb der Kommission, etwa die von Agrarkommissar Franz Fischler, lösen sie jedoch nicht: Fischler fürchtet zu hohe Kosten eines Beitritts der Türkei. Schätzungen gehen von Kosten von 15 Milliarden Euro pro Jahr aus. Allerdings rechnen selbst Optimisten wie Verheugen mit einem Beitritt "frühestens im Jahr 2015". (DER STANDARD, Printausgabe, 24.9.2004)