Ankara/Wien - Nicht erst seit der umstrittenen Strafrechtsreform, die fast zum Stolperstein bei den EU-Beitrittsbemühungen geworden wäre, sind sich die Gesetzgeber in Ankara bewusst, dass es um die Stellung der Frauen in der Türkei weithin schlecht bestellt ist. Die Probleme liegen naturgemäss im unterentwickelten und dicht bevölkerten Osten. Polygamie und daraus resultierende, für den Staat inexistente Kinder, geringer Zugang zur Bildung und eine dementsprechend hohe Analphabetinnenrate bei Frauen gehören dazu.

Geringes Bildungsniveau

Nach einer Untersuchung des Hacettepe Instituts für Bevölkerungsstudien haben 21,8 Prozent der türkischen Frauen gar keine Schule besucht oder die Volksschule nicht beendet. Nur 17 Prozent haben Matura oder Universitätsabschluss. Der vorläufige Bericht 2003 zu "Bevölkerung und Gesundheit", der im Vormonat bekannt wurde, nennt den Mangel an Frauenbildung als großes Problem. 68 Prozent der Türken leben in Städten. Ballungszentren sind Istanbul und der Südosten - 17 Prozent aller TürkInnen bevölkern die Bosporus-Megapole, 10 Prozent Südostanatolien.

Ungleichbehandlung der Kinder

Laut Schätzungen des UNO-Kinderhilfswerks UNICEF besuchen in der Türkei etwa 600.000 Mädchen keine Schule. Der Kampagne "Auf in die Schule, Mädchen" folgten im Vorjahr die Eltern von rund 40.000 Mädchen, die nicht wie bis dahin nur die Söhne, sondern auch die Töchter in die Schule schickten. Die UNICEF-Vertreterin Sham Poo warnte im August, dass die Ungleichbehandlung der Kinder zu einem Problem bei den EU-Ambitionen Ankaras werden könnte.

Zweitehen aus Armut

Armut und Arbeitsmangel tragen dazu bei, dass in Südostanatolien die archaische "kuma" weiterhin kultiviert wird - das sind religiöse Eheschließungen von Männern mit einer Zweitfrau, die vom Staat nicht anerkannt werden. Da diese Paare dann nicht standesamtlich heiraten, ergeben sich Probleme für die Kinder aus solchen Verbindungen: sie existieren vor dem Staat nicht, und wenn sie Identitätsnachweise brauchen, gibt es größte Schwierigkeiten mit den Behörden.

Sprachliche Probleme

Viele Frauen in den mehrheitlich kurdisch bevölkerten Gebieten haben auch Sprachprobleme. Sie sprechen kein Türkisch, weil sie oft gar keine Schulbildung haben. Daraus erwächst ihnen bereits ein sprachliches Handicap, wenn sie mit ihren Familien aus den Dörfern in regionale Städte wie Diyarbakir oder Urfa übersiedeln. Selbst wenn neuerdings kurdische Schulen erlaubt sind, werden auch künftig die KurdInnen, die an einem sozialen Aufstieg interessiert sind, nicht um gute Türkisch-Kenntnisse herumkommen.

Bildungsprogramme

Die Regierung in Ankara betreibt einige Projekte zur besseren Information und Ausbildung der Frauen in der Südosttürkei, wie türkische Medien berichten. Dazu gehören die Mehrzweck- Gesellschaftsprogramme CATOM. ExpertInnen fragen sich, ob diese staatlichen Initiativen den Bedürfnissen der Frauen tatsächlich entgegen kommen. Die in Broschüren aufgelisteten Zielsetzungen erinnern an Dritte-Welt-Programme: den Frauen Lesen und Schreiben beizubringen, sie über Gesundheit, Hygiene und Haushaltsführung aufzuklären.

Beispiel Siiert

Die Provinz Siirt wurde von der "Turkish Daily News", gestützt auf Statistiken des Gouverneursamtes, als Beispiel angeführt: 54 Prozent der Mädchen besuchen dort keine Schule. Die Alphabetisierungsrate der Frauen betrage 39 Prozent. Von 1000 Kindern sterben 90 im Säuglingsalter. Allerdings beträgt die Geburtenrate in Siirt 12 Prozent - zum Vergleich: 4 Prozent im Südosten generell und 1,8 Prozent in Istanbul. Auf 3.500 Menschen komme eine ÄrztIn, auf 48.600 eine ZahnärztIn. Rund 4.200 Paare seien nicht "offiziell" verheiratet, und rund 25.000 Kinder haben keine Identität, da sie vermutlich polygamen Verbindungen entstammen. (APA)