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Kein Verantwortlicher ist je vor einem Gericht dafür belangt worden, dass die Fähre mit 830 Passagieren und 159 Besatzungsmitgliedern an Bord in weniger als 30 Minuten unterging, nachdem sich das Bugvisier auf offener See geöffnet hatte und Unmengen Wasser in das Autodeck geströmt waren.

Foto: AP/AVIKAINEN
Stockholm - Der zehnte Jahrestag der "Estonia"-Katastrophe ist für viele Hinterbliebene der 852 Toten mit großer Bitterkeit verbunden. Als das furchtbarste Schiffsunglück der europäischen Nachkriegsgeschichte kurz nach dem Notruf "Mayday, Mayday" aus dem Funkraum der Ostseefähre am 28. September 1994 um 0.23 Uhr zur schrecklichen Realität wurde, kamen schnell Versprechungen von Reedern, Politikern und Aufsichtsbehörden.

Die Ursachen sollten rasch ermittelt, die Verantwortlichen zur Rechenschaft gezogen und die Opfer nach der Bergung des Wracks in Gräbern an Land, bei ihren Angehörigen, zur letzten Ruhe gebettet werden.

Keine Bergung

Zehn Jahre später gibt es in Stockholm und Tallinn Gedenkstätten für die meist aus Schweden und Estland stammenden Opfer. Die schwedische Regierung hat aber weder ihr Versprechen zur Hebung des Schiffs noch jenes zur Bergung der Leichen aus dem Wrack vor Finnlands Südküste eingelöst.

Kein Verantwortlicher ist je vor einem Gericht dafür belangt worden, dass die Fähre mit 830 Passagieren und 159 Besatzungsmitgliedern an Bord in weniger als 30 Minuten unterging, nachdem sich das Bugvisier auf offener See geöffnet hatte und Unmengen Wasser in das Autodeck geströmt waren.

Nur 137 Reisende überlebten die Unglücksfahrt des 15.556 Tonnen schweren Schiffs von Tallinn nach Stockholm bei stürmischem Herbstwind. Der estnische Kapitän der "Estonia", Arvo Andresson, gehörte nicht zu ihnen und konnte sich nicht gegen den Vorwurf verteidigen, er habe durch viel zu hohe Geschwindigkeit die Katastrophe mitverursacht.

Endloser Streit

Dies und mögliche Konstruktionsfehler oder Wartungsmängel am Bugvisier der auf der deutschen Meyer-Werft 1980 vom Stapel gelaufenen Fähre galten beim endlosen Streit in diversen Kommissionen als entscheidende Ursachen. Endgültige Klarheit mit juristischen Folgen für die Verantwortlichen gibt es auch nach zehn Jahren nicht.

"Beim Untergang der ,Titanic' 1912 dauerte es auch ohne Internet, TV und sonstige Elektronik ein paar Monate, bis die Öffentlichkeit eine glaubwürdige und verbindliche Erklärung bekam", kritisiert der schwedische Marinehistoriker Claes-Göran Wetterholm. Nach dem Untergang der "Titanic" (1513 Tote) habe es einen "Willen zur Aufklärung der Allgemeinheit" gegeben, den Wetterholm nach dem Kentern der "Estonia" vermisst: "Für mich waren die Ermittlungen eher eine politische Manifestation, um den guten Ruf des gerade selbstständig gewordenen Lands Estland zu verteidigen."

Auch die Organisationen der Hinterbliebenen meinen, von den Behörden in Estland und in Schweden sei alles getan worden, um die Klärung der Ursachen unmöglich zu machen. Statt das Wrack entsprechend den Zusagen der schwedischen Regierung zu heben, was technisch möglich gewesen wäre, wurde es einbetoniert und per Gesetz zum Friedhof für die dort wahrscheinlich rund 700 eingeschlossen Opfer erklärt.

Die in schwedisch-estnisch-finnischer Zusammenarbeit erstellten offiziellen Untersuchungsberichte waren so stark von Fehlern, Unterlassungen, Verschleppungen, Geheimabsprachen und Gesetzesbrüchen begleitet, dass ihnen die Betroffenen kaum Glauben schenken konnten. Das führte zu abenteuerlichen Hypothesen - bis zu einem (kaum beachteten) Film mit dem Titel "Baltic Storm". Darin war gar von einer Beteiligung des russischen Geheimdienstes an dem Unglück die Rede.

Rostiges Denkmal

Als Denkmal für den Untergang der "Estonia" rostet auf einem Abstellplatz der Marine in Stockholm das Bugvisier des Schiffes vor sich hin. Es war als einziges Schiffsteil wegen seiner Bedeutung für die Aufklärung gehoben worden.

Klas Helmerson, Chef der Behörde für die staatlichen Seefahrtsmuseen in Schweden, meint zur Forderung der Hinterbliebenen nach einem Museum für das Bugvisier und das Unglück: "Es wird nach meiner Einschätzung vier bis zehn Jahre dauern, bis das so weit sein kann." (Thomas Borchert, dpa, Der Standard, Printausgabe, 28.09.2004)