Literatur
"Der Roboter und das Mädchen"
Der Siegertext des Siemens Literaturpreises LITERATniktechTUR - Von Roman Marchel
− Also. Mein Name ist Alexander, aber in der Familie sagen sie Alex zu mir. Mein bester Freund nennt mich heute noch Xahander, wenn wir unter uns sind. So hat er mich immer genannt, als wir noch ganz klein waren, und er meinen Namen nicht richtig aussprechen konnte, wir kennen uns schon ewig. Aber egal.
Mein Name ist Alexander, ich bin siebzehn, ich bin Hinterbliebener.
− Hallo, Alexander.
− Ich will ehrlich sein: Eigentlich halte ich nicht viel von solchen Versammlungen. Seid mir bitte nicht böse, jeder lebt, wie er kann, aber was mich angeht, habe ich immer gedacht, dass man sich seinen Problemen selbst stellen muss. Mein Vater sieht das ähnlich. Aber egal, jetzt bin ich hier. Ich komme als eine Art Stellvertreter meiner Mutter, sie hatte vorgestern wieder einen Zusammenbruch. Jetzt ist sie im Krankenhaus und spricht nicht. Da habe ich mir gedacht, ich verkürze ihr die Zeit des Schweigens und leihe ihr meine Worte.
Für mich ist das nicht ganz leicht, ich bin nicht gerade von der gesprächigen Sorte, aber ich versuche mein Bestes. Vielleicht beginne ich mit dem Anfang.
Wir sind alle im Garten gesessen, es war ein schöner Sommertag. Nachmittag. Wir Kinder haben Cola getrunken, das heißt, Ina und ich, Philip war ja damals erst vier Jahre alt, er durfte noch kein Cola trinken. Ich sehe genau die rot-weißen Plastikschirmchen vor mir, die wir auf unseren Gläsern hatten, als Schutz gegen die Wespen. Ina hat mit ihrem Schlüsselanhänger gespielt, ich weiß nicht mehr, woher sie ihn hatte. Es war ein rosa Miniaturradio mit einem einzigen Knopf. Wenn man darauf gedrückt hat, spielte es den Refrain von Seasons in the Sun. Ina hat immer und immer wieder das Lied abgespielt. Beim ungefähr dreihundertneunundsiebzigsten Mal hat meine Mutter ihr gesagt, sie soll bitte das Radio lassen. Ina hat es auf den Tisch gelegt, einen Schluck von ihrem Cola genommen und dann wieder auf den Knopf gedrückt. „Bring das Radio bitte in dein Zimmer“, hat mein Vater gesagt. Es war wirklich nervig. Sie hat gemurrt, aber dann hat sie es doch ins Haus gebracht. Als sie wieder zurückgekommen ist, war da auf einmal der Roboter im Garten. Seine Lichter haben bunt geblinkt. Ina ist zu ihm hingegangen, und er hat ihr etwas gesagt. Wir haben es deutlich gehört, aber nicht verstanden. Ina hat sich zu uns umgedreht, sie hat gelächelt und uns gewunken. Ich würde mein ganzes Gedächtnis dafür geben, dieses Gesicht, diese Hand mit den gespreizten Fingern vergessen zu können. Sie hat gelächelt, aber so unwirklich, ihr Gesicht die Summe der leuchtenden Lämpchen des Roboters. Dann ist sie durchs Gartentor hinausgegangen.
Der Roboter hat Ina mitgenommen.
Das war vor sechs Jahren, Ina war neun.
Es war die erste Welle, also noch bevor das Fernsehen gewusst hat, dass es eine Welle war. Wir waren nicht vorbereitet, aber die einzige, blinkende, ratternde Wahrheit ist: Wir haben es gewusst. Wir sind dagesessen und haben es gewusst.
Ich habe mir lange und oft eingeredet, es hat einfach zu Ina gepasst. Sie war ein fröhliches Mädchen, sie hat gern auf der Straße Fußball gespielt, sie hatte nie Angst. Ganz anders als wir. Wir machen uns bei jeder Gelegenheit in die Hosen. Meine Mutter hat immer Angst um uns, mein Vater hat dann Angst um meine Mutter, und ich habe Angst um mich selbst. Nur mein Bruder, der ist vielleicht auch anders, heute. Aber früher war er halt noch klein. Wenn es zum Beispiel ein Gewitter gegeben hat. Ich muss selber lachen, wenn ich uns so vor mir sehe. Meine Mutter sitzt auf dem Sofa und tröstet meinen kleinen Bruder, den sie an sich drückt, als wäre es der Weltuntergang. Mein Vater sitzt am Tisch und legt Karten. Er spielt oft Solitär, er glaubt, das hat eine beruhigende Wirkung auf meine Mutter. Ich sitze hinter dem Sofa auf dem Boden und bohre wie verrückt in der Nase. Ich mache das oft, wenn ich Angst habe, manchmal bis ich Nasenbluten bekomme. Nur Ina, was macht sie? Sie hockt vor der Balkontür und giert nach den Blitzen. Sie hat das Gesicht, so fest es geht, an die angelaufene Scheibe gepresst, die Nase plattgedrückt. Ihre Wimpern berühren das Glas. Sie sind wie lauter kleine Hängebrücken, auf denen die wunderbaren Wesen, die sie im Gewitter sieht, den Weg zu ihr finden sollen. Sie hat überhaupt keine Angst. Dann zeichnet sie mit dem Finger gezackte Pfeile in die Atemflecken, damit sie eine Erinnerung an die schönen Blitze hat, wenn das Gewitter abgezogen sein wird.
Das Spiel meines Vaters ist nicht aufgegangen, ich habe Blutflecken auf der Hose, mein Bruder wird in dieser Nacht im Bett meiner Eltern schlafen; aber egal wie viel Zittern und Wimmern und Bluten ich auch bemühe, das Bild, das uns im Garten sitzend zeigt, bleibt deutlich: Wir haben es gewusst.
Seid mir bitte nicht böse, ich weiß natürlich nicht, wie es bei euch war. Aber die zweite und dritte Welle sind doch eine Art Beweis. Da war man doch gewarnt. Und was hat es geholfen? Original nichts. Irgendwie haben wir es doch alle gewusst, oder? Heute ist mir das klar. Damals war es anders, kurz haben wir ins Bild gepasst. Ina war kein Baby mehr, sie ist halt vors Tor gegangen, na und? Das wollte auch die Polizei hören. Und die Fürsorge. Später sind dann die Journalisten gekommen und die Leute vom Fernsehen, und auch ihnen hat es gepasst. Sie wollten Aufnahmen machen vom unverändert gebliebenen Kinderzimmer. Die waren überhaupt am besten, die Leute vom Fernsehen. Sie wollten sehen, dass wir unseren Fernseher auf den Müll geworfen haben, weil wir die Nachrichten nicht mehr ertragen konnten. Sie wollten ein abgezwicktes Telefonkabel filmen, unsere Panik vor dem Klingeln. So Scheiße halt. Meine Mutter hat geweint, und mein Vater hat sie dann rausgeworfen… die Leute vom Fernsehen, meine ich. Haben wir doch glatt die Unverschämtheit besessen, weiter zu leben.
Natürlich haben wir in der ersten Zeit das Kinderzimmer unberührt gelassen. Wir haben gehofft und geheult, wir sind die Tode gestorben, von denen später so viel und so leicht geredet wurde. Die Nachrichten haben uns umgebracht, das Telefon hat uns umgebracht, aber dann waren wir wieder da, unsere Herzen dicke, klumpige Muskeln. Vielleicht klingt es hart, was ich jetzt sage, aber das Leben eignet sich nicht zum Melodram. Schließt die Augen und stellt euch vor, wie ihr am Klo sitzt, dann habt ihr den Beweis. Wir hoffen und heulen heute noch, aber auch das ist wahr: Wir wissen, sie kommt nicht zurück.
Am besten geht Philip, mein kleiner Bruder, damit um. Er kann unglaublich gut zeichnen und malen. Er tut praktisch den ganzen Tag nichts anderes. Wenn er zum Beispiel einen Baum malt, dann sieht man, dass er noch wachsen wird. Habt ihr schon jemals einen Baum angesehen und dabei gedacht, der wächst noch? Ich nicht. Ich sage das nicht, weil er mein Bruder ist, er hat wirklich ein unheimliches Talent. Man sieht, dass sich die Blätter gerade erst wieder beruhigt haben, nachdem kurz zuvor ein heftiger Windstoss hineingefahren war. Man spürt, auf dem einen Zweig – so wie er gebogen ist – muss ein Vogel sitzen – und wirklich, wenn man dann genauer hinschaut, erkennt man im scheckigen Laub die Schwanzfedern. Er wird bestimmt ein großer Maler, da gibt es für uns keinen Zweifel. Vor kurzem habe ich in der Zeitung ein Interview mit einem Dichter gelesen. Er war im Krieg und er sagt, dass kein Mensch ernsthaft dichten kann, bevor seine Welt nicht ins Gleiten, ins Schlittern gekommen ist, so lange sie nicht droht, außer Kontrolle zu geraten. Für meinen Bruder stimmt das wahrscheinlich, die frühe Erfahrung hat ihm wohl dieses Talent lassen müssen, diesen unermüdlichen Willen, die Welt zu bannen, ohne ihr aber die Bewegung zu nehmen. Okay, ich verstehe davon nicht viel, von Dichtung eigentlich gar nichts, ich habe das Interview nur wegen der Überschrift gelesen: „Sex hilft schon auch!“ Unsere Zeitungen. Eine Zierde, was?
Aber egal. Ich wollte ja für meine Mutter sprechen. Für sie ist es am schwersten. Vorgestern hatte sie wieder einen Zusammenbruch. Es geht ihr schlecht. Aber schon vor dem ersten Zusammenbruch war uns klar, dass sie am meisten Schutz braucht. Mein Vater sagt, sie ist unser umgekehrter Engel. So, hat er geglaubt, würden wir am ehesten begreifen, worum es ging. Mein kleiner Bruder war ja erst vier, dann, am ersten Jahrestag, fünf. Jahrestage, haben wir geglaubt, sind besonders gefährlich. Mein Vater hat unsere Nachbarn und Bekannten eingeschworen, keine Anrufe, keine Besuche. Es ist gut gegangen. Das Frühstück am nächsten Morgen war ein Festmahl im Zeichen des Triumphs, wenn man einen kurzen Blickwechsel zwischen meinem Vater und mir so nennen will. Unsere Ina ist fort, aber diese Schlacht haben wir gewonnen. In solchen Begriffen haben wir tatsächlich gedacht, damals. Zumindest ich. Mein Vater aber auch, glaube ich. Die Servietten neben den Tellern waren bunt, keine Zugeständnisse, keine weißen Fahnen. Ich erinnere mich, wir waren sogar ziemlich heiter. Wir haben gelacht. Mein kleiner Bruder hat etwas von seinem Joghurt auf den Teller gepatzt, auf ein Paprikastück. Er hat es aus der Pfütze genommen und gesagt: „Quak, quak, quak.“ Er ist lustig, mein Bruder, wir haben gelacht, meine Mutter auch.
Und dann haben wir es gehört… Ein paar Sekunden später war es ruhig. In meinem ganzen Leben habe ich nie eine solche Stille erlebt wie in diesem Moment. Die Zeit ist ein Geräusch und wenn sie stehen bleibt, ist Stille. Ich kann nicht mehr sagen, wie lange. Wir haben dann ein Krachen gehört, ein Schaben, und wieder: Seasons in the Sun. Meine Mutter ist aufgesprungen und durchs Haus gelaufen, wir auch. Sie hat geschrieen, zuerst „Aus! Aus!“, immer wieder „Aus!“, dann hat sie keine Wörter mehr herausgebracht, nur noch Laute. Ich wünsche niemandem, dass er solche Laute hören muss. Es war nicht das hysterische, schrille Gekreische wie im Film, sondern tiefes, kehliges Klagen. Als ich ins Kinderzimmer gekommen bin, ist meine Mutter auf allen Vieren auf dem Boden gekauert, unter ihr die Splitter und Elektronikteile des Miniaturradios. Sie hat den Schlüsselanhänger zertreten. Doucette muss ihn hinter einem Kasten oder Regal herausgefischt haben und mit der Pfote am Knopf angekommen sein. Doucette ist unsere Katze. Sie ist eigentlich ein Kater, aber als uns die Tierärztin darüber aufgeklärt hat, waren wir schon so an den Namen gewöhnt, also sind wir dabei geblieben.
Meine Mutter war dann für einige Zeit im Krankenhaus. Doucette auch. Also in der Tierklinik. Wir wohnen recht nahe an der Bahntrasse, und ein paar Tage später ist sie unter einen Zug gekommen. Mein Gott, die hat ausgesehen, als wir sie gefunden haben. Die linke Vorderpfote war abgetrennt. Mein Gott, hat die ausgesehen. Jedenfalls hat sie überlebt. In der Nachbarschaft hat sofort das Gerede eingesetzt. Katzen stehen im Bunde mit den Mächten der Finsternis, und das war die Strafe. So Scheiße halt. Uns haben sie es natürlich nicht gesagt, aber mein bester Freund hat es aufgeschnappt. Und es hat schon Momente gegeben. Der Zeitpunkt war immerhin eigenartig, als hätte sie sich nur um einen Tag verrechnet. Da muss man wahnsinnig aufpassen, verloren ist man schnell.
Ich muss fast lachen. Das wäre etwas gewesen für die Leute vom Fernsehen. Jedenfalls haben wir daraus gelernt, dass Jahrestage nichts bedeuten. Das Leben rechnet nicht in Tagen. Wir brauchen gar nicht zu triumphieren, haben wir gelernt. Wer von einer Schlacht spricht, hat schon verloren. Manchmal bin ich unerträglich altklug, ich weiß. Aber meistens bin ich ganz normal. Das ist es ja, wir leben fast ganz normal. Das ist es, was ich vorher sagen wollte. Ich weiß nicht, wie es bei euch ist, aber bei uns ist es… Ich freue mich wie ein kleines Kind, wenn eine Schulstunde entfällt, einmal habe ich sogar in die Hände geklatscht. Oder, es ist nicht lange her, da wollte ich einen Film anschauen, im Freiluftkino. Die Vorstellung ist entfallen, weil es geregnet hat. Ich bin zwei Tage auf dem Bett gelegen und habe mir Leid getan. Ein Bein habe ich vom Bett hängen lassen und da bin ich gekauert. Wegen so was. Als wäre meine Schwester nie von einem Roboter fortgenommen worden, als wären wir nicht dagesessen und hätten gar nicht zugeschaut. Manchmal glaube ich, ich habe kein Herz.
Vor zwei Wochen zum Beispiel, das war so ein Spaß. Mein bester Freund und ich haben bei ihm hinterm Haus einen Joint geraucht. Seine Eltern haben oben die Nachrichten geschaut, das Fenster war offen. Wir haben geflüstert. Wenn sie etwas riechen, sagen wir einfach, dass der eine Politiker jetzt schon so eingeraucht ist, dass es sogar durch den Fernseher kommt. Das sieht man ja, dass der vor jeder Parlamentssitzung etwas raucht, vor jedem Interview und eigentlich immer. Die Idee allein hat uns wiehern lassen vor Lachen. Wir sind dann in ein Lokal gegangen, das Flüstern hätten wir nicht mehr lange durchgehalten. Dort haben wir uns abwechselnd Interviewfragen gestellt und dann beide darauf geantwortet. Alles gereimt. Kostproben erspare ich euch, ich habe ja schon gesagt, von Dichtung verstehe ich nichts. Aber wir waren begeistert, wir haben auf den Tisch geschlagen und unter dem Tisch haben wir gestrampelt. Die Kellnerin ist zu uns gekommen und hat gefragt, ob wir noch ein Bier wollen. „Ihr habt es ja lustig“, hat sie gesagt. Mein bester Freund hat sie angeschaut und gesagt: „Na sicher, Huber, sing uns doch was vor!“ Ich bin seitlich vom Sessel gekippt vor lauter Lachen. Der Huber ist der Sänger von unserer Schulband. Gott sei Dank, hat sie ihn nicht gekannt. Der Vergleich ist kein Kompliment, das könnt ihr mir glauben. Normalerweise sind wir nicht so ungut, wir können uns schon benehmen.
Vor zwei Tagen waren wir dann schwimmen und wen haben wir gesehen? Den Huber, den richtigen Huber, mit einem Mädchen aus der sechsten Klasse. Die gefällt uns schon lange, und jetzt hat ihr der Huber den Rücken eingeölt. So eine Strafe für einen winzigen Spaß! Wir haben auch gemerkt, dass sich etwas zusammenbraut, immer mehr Leute haben ihre Sachen gepackt und sind gegangen. Erste Tropfen haben wir auch gespürt, aber wir mussten einfach auf unseren Handtüchern sitzen bleiben, die Finger zwischen den Zehen, wir konnten es nicht fassen. Bis wir endlich zur Straßenbahn gekommen sind, klebten uns die Haare im Gesicht und das Gewand auf der Haut. Es wahr schwer zu sagen, wer mehr dem Wolf aus dem Märchen von den sieben Geißlein ähnelte, hätte man ihn – mit Steinen gefüllt und abgesoffen – wieder aus dem Wasser gezogen: Unsere schwarz triefenden Badetaschen oder wir selbst. Zu Hause habe ich einen richtigen Bach durchs Wohnzimmer ins Bad gezogen. Das war hier die einzige Spur des Gewitters. Schon während der Straßenbahnfahrt hatte es offenbar die Verfolgung aufgegeben. Ich habe geduscht, nur kurz, und frische Sachen angezogen. Als ich dann ins Wohnzimmer zurückgekommen bin, ist meine Mutter auf dem Sofa gesessen und hat sich das Handtuch, mit dem sie meine Sauerei aufgewischt hatte, an die Brust gedrückt. Neben ihr setzte mein kleiner Bruder gerade die letzten Striche auf eine Bleistiftskizze. Ich weiß nicht, wie lange ein Gedanke dauert. Jedenfalls habe ich mir gedacht, was für ein unglaubliches Talent! Die Wolken auf dem Papier waren gewaltiger und geladener als die über dem Schwimmbad, und obwohl das Papier natürlich vollkommen trocken war, habe ich die Nässe, den Regenguss, der gar nicht gezeichnet war, so deutlich kommen sehen, viel deutlicher gespürt als die erste Dusche auf dem Weg zur Station und die zweite im Badezimmer. Das war mein Gedanke, er kann nicht lange gedauert haben. Aber ich hatte gerade noch Zeit, diesen Gedanken zu denken, dann hat es gekracht. Der Donner war mitten im Wohnzimmer, der Blitz in der Scheibe, und dass sie nicht zersprungen ist, war ein Wunder. „Schalt doch bitte das Ding aus“, hat meine Mutter zu meinem Vater gesagt. Er hat am Computer Solitär gespielt. „Gleich“, hat er gesagt. „Ich gewinne gerade.“ Das war ein Irrtum. Mit dem nächsten Kracher gab es ein helles Aufleuchten, als bestünde die Luft aus Geistern, die für einen Sekundenbruchteil sichtbar werden, wenn sie erschrecken. Dann war es finster, auch am Bildschirm. Der Blitz hatte in den Computer eingeschlagen, und ein brennendes Bündel von Umständen in meine Mutter.
Jetzt ist sie im Krankenhaus. Sie wird sich fangen. Irgendwann wird dann wieder irgendwas passieren. Ich weiß nicht, warum ich geglaubt habe, es könnte helfen, wenn ich das alles hier erzähle. Vielleicht habe ich es gar nicht geglaubt. Vielleicht wollte ich in Wahrheit etwas anderes sagen: Ina kommt nicht zurück, und wir wollen ein reiches Leben, so in der Art. Mit Sekt an den Feiertagen. Ina hat einmal einen Sektkorken mit einer Schnur an den Sessel beim Telefontisch gebunden, für unsere Katze. Er hängt immer noch dort, wir haben die Schnur zweimal erneuert, aber er hängt noch dort. Die Katze hat dem Korken den halben Tag aufgelauert, sie ist ihn angesprungen, hat sich in ihn verbissen, sie hat ihn geliebt. Etwas zum Lieben, das war Inas Geschenk für die Katze. Inzwischen ist sie alt geworden und träge, sie hat das Interesse am Korken verloren. Manchmal, wenn der Zug draußen vorbeipoltert, die Stifte im Glas neben dem Telefon vibrieren und der Korken zittert, tatzelt sie noch hin und versucht, mit dem Stummel ihrer Vorderpfote einen zweiten Schlag nachzusetzen. Aber es will nicht so recht gelingen. So ist es mit uns. Wir haben dem Fernsehen nicht den Gefallen getan uns einzubunkern, wir haben die Fenster nicht mit Papier zugeklebt, niemand von uns trägt Schwarz. Nicht einmal hierher gekommen bin ich, bis jetzt. Aber wir werden älter, und es wird schwerer. Ina ist fort. Und wenn wir eine Freude, ein Glück in Reichweite haben… Es stimmt, ich habe es eh gesagt, wir bekommen schon etwas davon ab, aber dann wollen wir es fassen und rudern mit unserem Stummel ins Leere. Ich kann hier nur für mich sprechen und ich weiß, es ist nicht richtig. Aber ich wünschte so sehr, ich könnte auch gehen.