Amerika hat Elvis Presley, die Briten haben Lord Lucan. Die Zahl derer, die wetten, dass sich seine für tot erklärte Lordschaft irgendwo in Afrika ins Fäustchen lacht, ist mindestens so groß wie die Schar jener, die glauben, dass Elvis noch lebt. Jetzt will Scotland Yard den Fall schließen.

Es gibt kaum ein zweites Thema, abgesehen vom Wetter, über das sich in England so prächtig streiten lässt. Die einen wollen den Adligen, der heute 69 Jahre alt wäre, in Hongkong gesehen haben, andere in Mosambik, Australien, Brasilien. Mindestens 70 Lord-Lucan-Sichtungen hat man registriert.

Das Rätselraten begann mit einem Mord. 7. November 1974, abends, eine Villa im vornehmen Londoner Stadtteil Belgravia: Ein Mann lauert der Nanny Sandra Rivett auf, die in der Küche das Teewasser aufsetzen will. Mit einem Bleirohr prügelt er sie zu Tode. Lady Lucan, die Dame des Hauses, hastet, von den Schreien alarmiert, die Treppe hinunter. Der Eindringling drischt auch auf sie ein. Sie flüchtet blutüberströmt in das Pub Plumber's Arms und schreit, jemand wolle sie töten, das Kindermädchen habe er bereits umgebracht.

Blutspuren

Die Lucans lebten da schon getrennt, der Verdacht fiel schnell auf Richard John Bingham, den siebten Lord. Er fuhr in einem geborgten Ford nach Newhaven, bestieg ein Boot - oder eine Fähre - und ertränkte sich im Ärmelkanal.

Sagt Lady Lucan. Dasselbe sagte der Kasinobesitzer John Aspinall vor vier Jahren: "Seine Knochen liegen zweihundertfünfzig Fuß tief auf dem Grund des Kanals." In Aspinalls Spielhölle, dem Clermont Club, hatte der Earl (Spitzname "Lucky") einen Schuldenberg aufgetürmt.

Der Earl, Prototyp eines Blaublütigen, der dem Müßiggang frönte: Erzogen in Eton, Reserveleutnant eines Eliteregiments, kurz Banker in London. Mit dem Titel erbte er das Familienvermögen, einschließlich Immobilien in England, Rhodesien und Irland. Archivbilder zeigen einen arroganten Herrn mit exakt gestutztem Schnauzer, standesgemäß in Nadelstreif gekleidet. In dem Ford, der verlassen am Kanalufer stand, fanden sich wirklich Blutspuren von ihm und der Nanny. Für Lucans Selbstmord fehlen Scotland Yard jedoch die Beweise.

Fahndungsbild

Nicht nur das, ein Superintendent nach dem anderen bekam so seine Zweifel. Vor fünf Jahren erklärte ein britischer Richter die Legende für tot: Der Graf sei "am oder nach dem 8. November 1974" verschieden. Als aber George Bingham, der Sohn des Mysteriums, den Platz der Lucans im Oberhaus einnehmen wollte, beschied man ihm: Noch bestehe die Möglichkeit, dass der siebente Lord lebe, da müsse sich der achte Lord schon noch ein wenig gedulden. Scotland Yard lässt ein Fahndungsbild zeichnen - falls das Phantom doch noch irgendwo lebt. (Frank Herrmann aus London/DER Printausgabe, 20.10.2004)