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New York feiert seine "City Subway". Baubeginn war im Jahr 1900, 1904 wurde eröffnet, fertig war das Subwaynetz im Jahr 1925

Foto: Archiv
Der U-Bahn-Arbeiter Marshall Mabey kam mit dem Leben davon. "Ich wurde zusammengepresst, fester, als mich je ein Mädchen umklammerte", meinte er später, "der Druck war verdammt hoch." An einem warmen Apriltag hatte sich Mabey in einem Kompressluft-Tunnel unter dem East River befunden, als die Decke des Stollens, zum Fluss hin, aufbrach.

Das "New York Evening Journal" berichtete: "Three men were sucked out into the river and propelled in the air." Seine beiden Kollegen ertranken, Mabey erzählte: "Das Letzte, was ich sah, während es mich durch die Luft wirbelte, war die Brooklyn Bridge."

Jetzt wird die "New York City Subway", berühmteste Untergrundbahn der Welt, 100 Jahre alt - die Stadt feiert mit einer Ausstellungs- und Filmreihe und mit Nostalgiefahrten. Am 27. Oktober 1904 startete die erste Garnitur. "Von der City Hall nach Harlem in 15 Minuten!", war die Devise.

Wenn heutzutage jemand innerhalb von achtzig Minuten in Coney Island ins Meer springt, bei Katz's Delicatessen auf der Lower Eastside ein Pastrami-Sandwich verdrückt (der Meg-Ryan-Orgasmus-Imbiss ist bereits 116 Jahre alt) und anschließend die Alma-Mater-Statue vor der Columbia University fotografiert, dann verdankt er seine etwas irre Mobilität dem größten Metrosystem der Welt.

Die Zahlen: 468 Stationen, 1056 Schienenkilometer, 5700 Waggons, 26.000 Angestellte - für täglich 4,2 Millionen Passagiere. Moment - jemand möchte eine Statue fotografieren? Geht in New York nicht mehr, leider! Denn öffentliche Gebäude, Denkmäler und Anlagen wie die Subway stehen seit dem Terrorakt 9/11 selbstverständlich unter Fotoverbot.

Ob man die Freiheitsstatue malen oder zeichnen darf, ist nicht überliefert, doch Besuchern sei Diskretion empfohlen, denn die Fingerprints und das schicke Foto bei der Einreise machen jeden jederzeit identifizierbar. Viele schmunzeln heute säuerlich über die "Welcome"-Schilder am JFK-Airport - beim Bau der Subway war hingegen jeder willkommen.

Zwischen 1900 und 1925 errichteten 30.000 Arbeiter, vor allem frisch zugewanderte Süd- und Osteuropäer, das unterirdische Monument. Von Beginn an schufteten unter Tag auch Afroamerikaner, die nicht in die weißen Gewerkschaften aufgenommen wurden, obwohl gerade sie die gefährlichsten Tätigkeiten übernahmen.

Die Baumethode hieß "Cut and Cover": Man riss Straßenzüge auf, grub in möglichst geringer Tiefe möglichst schmale Tunnel (vier Schienenspuren, zwei Bahnsteige) und goss den Schlauch mit Stahl aus. War er halbwegs wasserdicht, schloss man den Erdspalt wie nach einem chirurgischen Eingriff.

"Die urbane Entwicklung ging Hand in Hand mit dem U-Bahnbau", meint der Historiker und Metrospezialist Stan Fischler, der momentan wegen Interviewterminen kaum aus dem "NY Transit Museum" herauskommt. "Coney Island wurde nur zum Vergnügungszentrum, weil jedermann um einen Nickel an die Küste fahren konnte."

Die Subway durchmischte die "Neigh- bourhoods", Ströme von Italienern und Juden zogen von der Lower Eastside nach Queens oder Brooklyn, die Iren verließen Downtown. In den neuen Stadtteilen war die Luft sauber, und es gab endlich Platz. "Früher war außerhalb Manhattans nur Farmland", erklärt Fischler. "Seit die Leute nicht mehr wohnen mussten, wo sie arbeiteten, investierten Grundbesitzer in den Hausbau an der Peripherie."

Bis ins Jahr 1940 existierten drei Metrosysteme mit unterschiedlichen Eigentümern, zwei davon privat, die unter anderem wegen der unveränderten Fahrpreise (42 Jahre lang preisstabil: ein Nickel) bankrottierten. Dennoch brach der 23. Dezember 1946 alle Rekorde - 8,8 Millionen Passagiere, eine bis heute unerreichte Marke. Doch gerade sie illustriert den

Beginn des Niedergangs, der Epoche des Straßen-und Autobahnbaus. Bald wurden öffentliche Verkehrsmittel ebenso unattraktiv wie der Moloch Manhattan. Die Subway galt als veraltet, dreckig und gefährlich.

"Das karge Interieur der ersten Jahrzehnte ist geblieben", meint Stan Fischler in einem modern anmutenden Waggon von 1916, "im Prinzip kam nur die Air-Con dazu." In den Fünfzigerjahren wurde der "Token" zum Zahlungsmittel, die für eine Fahrt geltende Münze, einzuwerfen an Drehkreuzen. Nicht alle warfen ein, legendär waren die "Schrankenspringer", Schwarzfahrer, die sich unter dem Geschrei der Aufpasser mit Sprungkraft ins unterirdische System katapultierten und in der Menge untertauchten.

Der letzte Token klickte 2003, nun regiert die aufladbare "MetroCard". Manche behaupten, in Zeiten des neuen Zugkontroll- und Managementsystem von Siemens, das 540 Garnituren in Bewegung überwacht, sei die Subway langweilig geworden - doch einiges bleibt auch die nächsten 100 Jahre: Die klassische rote Linie "2" rumpelt knapp unter der Erdoberfläche von der Bronx über Harlem, Midtown, Chinatown und Wallstreet nach Brooklyn. Noch immer enthüllt die wechselnde Mischung der Zu- und Aussteigenden die soziale Segregation. Man durchkreuzt eine Welt nach der anderen, und alle zusammen ergeben New York City. Trotz der Jubiläumsfeierlichkeiten ist der Tag, als Marshall Mabey durch die Luft propellerte, aber fast vergessen. (Der Standard/rondo/22/10/2004)