Hans Igler
Europa hat mehr als einmal erfahren, dass man sich für wichtige Entscheidungen Zeit nehmen muss (siehe Euro, Maastricht, Amsterdam). Um 15 bisweilen sehr unterschiedliche Ausgangspositionen der souveränen Partner erfolgreich zu einem Konsens zu entwickeln, bedarf es langwieriger Prozesse und politischer Geduld. Daher lehnt eine deutliche Mehrheit der österreichischen Bevölkerung die überzogenen und ungewohnt überhasteten "bilateralen" Sanktionen der 14 ab.
Die Abhängigkeiten zwischen Europa und Österreich sind in den letzten Jahrzehnten der Integration viel tief greifender geworden, als es vordergründig scheinen mag. Europa braucht Österreich - und Österreich braucht Europa! Gerade die Erweiterung der EU und die Institutionsreform muss europäischen Konsens finden. Hier liegt die zentrale Herausforderung der EU in den nächsten Monaten und Jahren. (Wie sagte mein Freund Kissinger doch so treffend: "Wenn ich mit Europa sprechen will, wen soll ich dann anrufen?") Denn wir sind weitgehend nach wie vor ein Verbund von nationalen Souveränitäten, die sich nur über den Umweg des Opportunismus einzelner ökonomischer und gesellschaftlicher Kräfte in eine gemeinsame Richtung bewegen.
Man mag lange über eine europäische Wertordnung philosophieren und über die eine oder andere Entwicklung in den Mitgliedsländern besorgt sein. Unerlässlich aber ist, dass jede Aktion, die sich aus derlei Besorgnissen ableitet, verfahrensmäßig auf soliden Fundamenten ruht. Ist das nicht der Fall, dann droht jene Gefahr, die George Melloan im Wallstreet Journal unlängst so stimmig charakterisiert hat: Wenn man individuelle demokratisch zustande gekommene Wertmeinungen zugunsten einer übergeordneten Gemeinschaftsideologie zu unterdrücken versucht, so nennt man das Totalitarismus.
Daher sollte eine europäische Verfassungsdebatte gerade jetzt, zu einem Zeitpunkt neuer großer Herausforderungen, einsetzen. Und die 14 müssen erkennen, dass ein solcher Diskussionsprozess ohne Österreich weder wünschenswert noch praktikabel ist, und daher so schnell wie möglich eine "Exit-Strategie" entwerfen.
Dr. Hans Igler ist Ehrenpräsident der Österreichischen Industriellenvereinigung.