Liebe Lilly, wie belebend, dich gestern Nacht gesehen zu haben. Deine Heimatstadt Bozen ist, seit wir uns dort während meiner Redakteursjahre beim "Spiegel" trafen, auch mir zur kräftigenden Schnittstelle unserer europäischen Kulturwelten geworden.

Wie bezeichnend, dass sich unsere Wege in den Fluchten des Europäischen Parlaments bislang nicht kreuzten. Mit den nunmehr 732 Abgeordneten von Litauen bis Zypern könnten wir uns wohl leichter beim Chinesischen Volkskongress in Peking begegnen.

Wie erhellend, als du gestern als TV-Gast von Sandra Maischberger in der ARD von deinen Erfahrungen mit dem italienischen öffentlich-rechtlichen Sender RAI sprachst, deinem langjährigen Arbeitgeber. Berlusconi rules, du meintest: "Ich werde totgeschwiegen, ich werde zensiert." Seit deinem Wechsel in die Politik vor vier Monaten seist du bisher nur dreimal ernsthaft in der RAI zu Wort gekommen.

Nur dreimal? Da beneide ich dich. Davon können wir in Österreich nur träumen. Seit Karin Resetarits, auch sie eine ehemalige TV-Moderatorin, und ich ins Parlament gewählt wurden, haben wir im ORF mit politischen Aussagen keine Chance. Obwohl die Wähler/innen uns zu Österreichs drittstärkster Kraft in Europa machten, grenzt uns die ORF-Führung aus. Formal heißt es immer, nur die vier im nationalen Parlament vertretenen Parteien seien zu berücksichtigen. Doch so werden 14 Prozent der EU-Wähler und hunderttausende Gebührenzahler verhöhnt.

Vielleicht war eines der Themen, zu denen du dich in der RAI äußern konntest, die Türkeifrage. Bei uns ließ der Brüsseler Korrespondent auch EU-Parlamentarier debattieren, doch der ORF-Logik folgend nur Rote, Schwarze und Grüne.

Noch als Mitglied der sozialdemokratischen Fraktion war ich nach wichtigen Erweiterungsverhandlungen hinter verschlossenen Türen dabei, als Kommissar Günter Verheugen verkündete: "A deal is done" - lange bevor der Öffentlichkeit der Eindruck vermittelt wurde, der Entscheidungsprozess laufe erst an. Das interessiert die "International Herald Tribune" und die BBC, doch nicht den ORF.

Oder die anstehende EU-Verfassung, bei der sich die Grünen so verrennen; eine Verfassung, die uns alle in die militärische Aufrüstung hineintreibt und die unverzichtbare demokratische Legitimation der Europäischen Union wieder nicht gewährleistet. Die Gewaltenteilung bleibt Fehlanzeige, Transparenz ohnehin. Forderst auch du eine Volksabstimmung, und darfst das auch öffentlichkeitswirksam sagen?

Wie Italien beschäftigt auch Österreich die wachsende Politikverdrossenheit. Der ORF lässt diskutieren, etwa in "Offen gesagt", doch ohne uns. Dabei hat unsere offene Bürgerliste "für echte Kontrolle" viele frustrierte bisherige Nichtwähler/innen bei der EU-Wahl noch an die Urnen gebracht. Seit wir nach Gründen der verschiedenen Nichteinladungen fragen, werden die E-Mails von leitenden ORF-TV-Redakteuren trotz Nachhakens seit vielen Wochen nicht einmal beantwortet. Da passt es ins Bild, dass das ORF-Radio sich seit der Wahl kein einziges Mal für ein Interview interessierte und auch noch nie eine Einladung zur "TV-Pressestunde" einlangte.

Das Ignorieren, das Wegschweigen, das Nichtberichten mündet in dreiste Chuzpe. Vier Monate lang kommen wir zu politischen Sachthemen nicht zu Wort, und dann heißt es: Um den Martin ist es still geworden, von dem haben wir eigentlich nichts mehr gehört.

Am gleichen Abend, als du bei Maischberger auf dem Sofa saßest, griff der "ORF-Report" zu diesem Trick. Offiziell eine politische Informationssendung, zog der Bericht keineswegs inhaltsreich eine ankündigte "Zwischenbilanz" über uns, sondern stützte sich auf Kabarettelemente einer ORF-Produktion. Was für ein Zufall, dass der Redakteur des Beitrags sich selbst als Veranstalter eines Kabarettfestivals gefällt und die auftretenden Künstler natürlich auch bei seinem Festival schon unter Vertrag standen.

Dass inzwischen neue dreiste geplante EU-Spesenerhöhungen, die ich als Mitglied des Haushaltsausschusses öffentlich machen konnte, europaweit die Medien beschäftigen, dass die Zusammenarbeit mit anderen kritischen Parlamentarier-Kollegen klappt, dass wir den Abfluss von bald 100 Millionen Euro an EU-Geldern in europäische Parteikassen verhindern können - der ORF-Zuseher erfährt davon nichts.

In Kommentaren beschwören die Chefredakteure zwar den Europa-Gedanken, betonen die Bedeutung der Vernetzung. Du verstehst dich ja auch als überzeugte Europäerin, bist europaweit präsent. Doch da eine Warnung: Das Internationale wird im Journalistenberuf zum Selbstläufer, du kannst international Erfolg haben, aber in der Politik ignorieren heimische Medienleute, was du als Volksvertreter im Ausland erreichst. Sie lassen den Wähler im Dunkeln. Stattdessen werden sie auch dich jagen, deine "profils" und "Falters", blind dafür, dass Abkassierer die Demokratie verstümmeln, verhabert bis zur Unkenntlichkeit vor den Thronen der Mächtigen. Oder sollte selbst das im Berlusconi-Palermo-Tangentopolis-Italien weniger schlimm sein als im Schüssel-Konrad-Häupl-Land?

Jedenfalls bin ich auf ein Zusammentreffen in echt in Straßburg gespannt.

Hans-Peter Martin
Fraktionsloser Abgeordneter im Europäischen Parlament

PS: Klang da bereits begreifliches Entsetzen über die realen Zustände mit, als du bei Maischberger auffällig intensiv betontest, keiner Partei anzugehören und unabhängig zu bleiben, obwohl du Mitglied der sozialdemokratischen Fraktion Europas geworden bist?