Thomas Bernhard benutzte den schönen Ausdruck Lebensmensch für die Menschen, die ihm nahe standen, meist über Jahrzehnte hinweg. Der französische Philosoph Jacques Derrida, der in der Nacht vom 8. auf den 9. Oktober 74-jährig im Pariser Institut Curie unerwartet an den Folgen einer Operation verstarb, war ein Lebensmensch für viele, mit denen ihn eine gemeinsame Mission verband, die in nichts weniger bestand als darin, das philosophische Denken zu revolutionieren.

Am Vormittag des 12. Oktober, dem Tag des Begräbnisses, versammelten sich seine Kollegen, Schüler und Freunde vor der Administration Générale des Institut Curie in der Rue d'Ulm 25, von wo aus Derrida dann um 14 Uhr seinen letzten Weg auf den Friedhof von Ris Orangis antrat. Viele wussten seit einem Jahr, dass Derrida mit einem unheilbaren Krebs kämpfte. Er hat daraus kein Geheimnis gemacht und mutig immer wieder öffentlich über den Tod gesprochen, zuletzt im Juli in einem Interview in Le Monde.

Prosaisches Begräbnis

Im Gegensatz zur Bedeutung des Augenblicks erschien die nüchterne Abwicklung des Begräbnisses fast prosaisch. Kein Staat und kein Pomp, Derrida hat es wohl so gewünscht. Stattdessen außer der Familie nur alte und neue Freunde wie Michel Deguy, Jean-Luc Nancy, Régis Debray oder Jack Lang, alles Namen, die das intellektuelle Frankreich repräsentieren. Sie alle kamen, um von einem großen Denker und charismatischen Menschen Abschied zu nehmen.

Jacques Derrida kam gern nach Wien, denn zu dieser Stadt hatte er eine besondere Beziehung, die wiederum in seiner Beziehung zu Büchern gründete. Wien war für ihn der Ort eines Verlagsprojektes, das für die Übersetzung seines Werkes ins Deutsche entstand und das bis heute um sein Werk kreist. Für Derrida war die deutsche Philosophie ein zentraler Referenzraum seines eigenen Philosophierens. Umso verletzender und empörender war für ihn der große Rückstand bei den Übersetzungen seiner Werke ins Deutsche Mitte der 80er-Jahre. In Deutschland war die Übersetzung seiner Bücher zu dieser Zeit aus ideologischen Gründen blockiert. In diese Lücke stieß das Passagen-Projekt, das ich damals mit Michel Foucault, Sarah Kofman, Jean-Fran¸cois Lyotard, Jean Baudrillard und vor allem mit Jacques Derrida in Paris entwarf und dann in Wien realisierte.

Als die Edition Passagen Mitte der 80er-Jahre mit der Übersetzung philosophischer Texte aus dem Französischen begannen, ging es zentral um das Werk Derridas, der das Verlagsprojekt seither immer besonders engagiert unterstützte. Bis heute haben wir 25 seiner Bücher übersetzt, und weitere werden folgen. Für Derrida war die Publikation seines Werkes im Passagen Verlag eine Besonderheit, über die wir immer wieder sprachen. Bis zuletzt stand er mit großer Geduld immer wieder für die inhaltliche Klärung von besonders schwierigen Übersetzungs- und Philosophiefragen zur Verfügung. So hatte ich das große Glück, über mehr als zwanzig Jahre ein privilegiertes Gespräch mit dem bedeutendsten zeitgenössischen Philosophen führen zu können.

Philosoph und Intellektueller

Derrida war nicht nur Philosoph, sondern immer auch politisch und ethisch engagierter Intellektueller. Eines seiner wichtigsten Projekte, für das er über Jahrzehnte kämpfte, war die Reform der Institutionen der Philosophie. Engagements für politisch verfolgte Intellektuelle waren für ihn selbstverständlich. Am bekanntesten ist sein Einsatz im Kampf um die Befreiung Nelson Mandelas und für die Beendigung der Apartheit in Südafrika. Aber auch in den kommunistischen Ländern Europas war er immer wieder aktiv, um verfolgte Intellektuelle mit geheimen Seminaren in ihren Ländern zu unterstützen, was in der Tschechoslowakei zu seiner Verhaftung führte.

Mit diesen Engagements und mit seiner weltweiten Lehrtätigkeit war Jacques Derrida der vielleicht bekannteste Intellektuelle unserer Tage. Ein Philosoph, der die Medien zu nutzen wusste, um globale Unterstützung für seine Anliegen zu finden. Aber auch eines der vielen Paradoxe im Leben dieses Philosophen gründet hier: Als Denker der Differenz wurde er zu einer moralischen Instanz, deren Wort weltweit zählte.

"Seine Revolution bestand darin, keine zu machen"

Derridas Zeit für Philosophie wurde immer knapper, je erfolgreicher sich sein Denken verbreitete. Hinzu kam, dass seine Arbeitsumstände in Paris seinen Besuchern aus aller Welt geradezu grotesk erschienen. Sein letztes Büro in der Maison des Sciences de l'Homme am Boulevard Raspail hatte Handtuchgröße, eine Sekretärin musste er sich mit Kollegen teilen. Jeder, aber auch jeder universitäre Philosoph in unseren Breiten hat bessere Konditionen. Für kurze Besprechungen in Paris wurde das gegenüberliegende Hotel Lutetia zu seinem erweiterten Büro. Dort saß Derrida an seinen Vorlesungstagen in Paris und empfing Freunde und Bekannte, die mit ihm etwas zu besprechen hatten. Viele kannten diese Gewohnheit Derridas und kamen ohne Verabredung dorthin, wenn sie ihn sehen wollten. Und so wurden Gespräche mit ihm zwar immer wieder kurz unterbrochen, doch die meisten respektierten die private Öffentlichkeit dieses Raums, der bestimmt mehr intellektuelle Höhenflüge erlebte als andernorts manch universitärer Hörsaal.

Derridas Projekt der Dekonstruktion der abendländischen Philosophie ist eine Aufgabe von überwältigender Größe. Seine Revolution bestand darin, keine zu machen und skrupulös alles zu vermeiden, was so aussah wie eine Revolution. Gerade dadurch gelang Derrida aber eine der großen Wenden in der zweitausendjährigen Geschichte der Philosophie. Jean-Fran¸cois Lyotard, ein ebenso großer französischer Philosoph, wusste das. In einem Gespräch über die Bedeutung der Arbeit der Pariser Kollegen sagte er einmal ohne Zögern, der wichtigste Schritt in der von Frankreich im letzten Drittel des zwanzigsten Jahrhunderts ausgehenden Revolution des philosophischen Denkens war Jacques Derridas Philosophie der Differenz, der er als "différance" eine neue, das Denken verändernde Bedeutung gab. (DER STANDARD/Album, 23.-24.10.2004)