Wien - Dazu hätte es nicht einer absolut unzulänglichen Beweisführung im Plüsch des Josefstadt-Theaters bedurft: Die skandalöse Selbstentblößung von Arthur Schnitzlers Fräulein Else gehört zu den grandiosen salonliterarischen Bekleidungsleistungen der Wiener Moderne! Denn dieser kapriziöse Fratz, dem ein Seelenerforscher in das großteils noch ungeformte Gemüt hineinkriecht, um mitten im Bewusstseinsstrom einer 19-Jährigen eine Aussichtswarte zu errichten, einen Ankerplatz - einen sexualkundlichen Professorenleuchtturm: Diese Else ist um keinen Preis nackt zu haben.

Die Urlauberin muss sich, weil der in Wien weilende Papa ein Tunichtgut ist, der "Mündelgelder veruntreut", von einem ältlichen Genießer vor dem Dolomiten-Panorama eine Geldsumme erwirken, die dieser mit dem Anblick von Elses blühender Nacktheit vergütet wissen will.

Im Grunde kann dieser "Herr von Dorsday", der im Wiener Josefstadt-Theater übrigens die verschwitzte, verzopfte Anstandsmaske des Vaters trägt (Peter Scholz), die arme Else aber gar nicht "haben". Denn Else, die verwöhnte, traumverlorene Tochter, setzt das Schmierentheater des Begehrens völlig eigenmächtig in Gang. Was heißt denn das schon: "nackt"? Sie wird "hysterisch".

Sie tut etwas, wovon die Schnitzler-Veruntreuungskünstler im Wiener Josefstadt-Theater keine Ahnung, nicht den entblößtesten Schimmer haben: Sie behängt sich mit dem Stoff ihrer Vermutungen, ihrer Befürchtungen, ihrer Wehleidigkeiten. Sie dreht den allmächtigen Vaterfiguren und Geldleihgebern die lange, burschikose Nase - indem sie sich zwar coram publico entblößt, aber so, dass keiner etwas davon hat. (DER STANDARD, Printausgabe vom 23./24.10.2004)