So hat es Kelsen nicht gemeint" - unter diesem empathischen Titel diskutierte Karl Acham den "Zwiespalt zwischen den nun plötzlich beschworenen europäischen Grundwerten und dem Prinzip der Souveränität" - und der Leser ahnt sogleich, dass sich im Fortgang des Textes das Mitgefühl vom Autor der österreichischen Verfassung auf deren derzeitiges Schicksal - auch im übertragenen Sinn - lenken wird.

Die darin beschworene Bedrohung der (österreichischen) Demokratie durch die EU-14 geht dabei m.E. - paradoxerweise - von einer Perspektive aus, die zunächst nach 1945 als Kelsen-Kritik formuliert wurde: dass - verkürzt wiedergegeben, wie alles folgende - in konsequenter Beibehaltung (s)eines positiven Rechtsbegriffs, der seine Grundlagen aus den jeweiligen sozialen Normen einer Gemeinschaft schöpft, auch der Nationalsozialismus ein Rechtsstaat gewesen sei.

Während die Kelsen-Kritik damit einerseits die Mahnung zu einer Rückkehr zu den unbestrittenen, "ewigen" Grundsätzen des Naturrechts verband, setzte damit andererseits eine Diskussion der - zweifellos nicht unproblematischen - Begründung von Grundnormen in einem positiven Rechtsverständnis ein.

Recht auf Dissens?

Aus dieser Diskussion sollen hier zwei Aspekte angesprochen werden, die der Kelsen-Interpretation Achams widerstehen: Der Gerechtigkeitsbegriff Kelsens (wie auch die übrigen Grundnormen) ist kein Ergebnis demokratischer Übereinstimmung im Sinne von Abstimmungen, sondern einer gesellschaftlichen Übereinkunft. Was von einer Gesellschaft als gerecht, vor allem auch im Sinne eines gerechten Verfahrens, verstanden wird, setzt eine Übereinstimmung über die demokratischen Verfahrensweisen und deren Normen voraus.

Hierbei gilt für den Rechtsbereich die Herstellung eines von Affekten befreiten Diskurses, der als Voraussetzung auch auf die Debatte politische Grundwerte - die ja das Rechtssystem mitbegründen - übertragen werden muss.

Das von Acham angesprochene Recht auf antidemokratischen Dissens erscheint damit nur vor dem Hintergrund eines Minimal-Konsenses über die Grundregeln eines demokratischen Diskurses artikulierbar: gerade diesen permanent zu verletzen, ist aber einer der Hauptkritikpunkte gegen die FPÖ.

Meint man mit Kelsen also, diese Voraussetzungen müssten vor der Formulierung des Dissenses erfüllt sein, so würde sich die Freiheitliche Partei von der Teilnahme an diesem Diskurs ausschließen (allerdings auch immer wieder andere politische Parteien) - und damit wohl auch von der Teilnahme an demokratischer Machtausübung - eine, wie gesagt, theoretisch schwer formulierbare und politisch (wie gerade das österreichische Beispiel gezeigt hat) kaum (nach)vollziehbare Abgrenzung.

Warum also, wenn man versucht, die politische Entwicklung zwischen Österreich und Europa in Kelsenschen Begriffen zu analysieren, sich in die Aporien von Theorie und Praxis der Gerechtigkeit begeben? Warum nicht stattdessen den Begriff nationaler Souveränität problematisieren, dessen Betrachtung in einer positiven Sicht der Rechtsentwicklung viel produktiver erscheint?

In Fortsetzung der Kelsenschen Perspektive eines sich mit gesellschaftlichen und politischen Entwicklungen verändernden Rechtssystems ließe sich nämlich argumentieren, dass Souveränität längst geteilt ist zwischen der Union und den Mitgliedsstaaten - was etwa auch in den Wahlen zum Europäischen Parlament zum Ausdruck kommt.

Einmischung?

Freilich ist die Teilung dieser Souveränität selbst ein Prozess, der Diskussion und demokratische Abstimmung erfordert und auch hervorruft. Die Erwähnung des Prinzips nationaler Souveränität aber einfach als ausreichenden Widerspruch gegen die "Einmischung des Auslandes" hinzustellen, erscheint nach Österreichs Beitritt zur Europäischen Union, die ja auf einer Teilung nationalstaatlicher Souveränität beruht, dieser Problemstellung gegenüber inadäquat.

Hans Kelsen selbst hat bekanntermaßen zur blau-schwarzen Koalition und deren Legitimität nicht Stellung bezogen, sondern Beiträge zur Theorie der Rechtsentwicklung geliefert: Der Streit um die derzeitige Koalition sollte also zwar innerhalb der von ihm formulierten Grundrechte ausgetragen werden, aber vielleicht ohne ihn deshalb für die eine oder andere Position als Autorität zu vereinnahmen: Ob das nicht auch im Sinne von Kelsens Reiner Rechtslehre wäre?

Andreas Pribersky, Universitätslektor für Politologie, leitet die Sozialwissenschaftliche Abteilung des Ost- und Südosteuropa-Instituts in Wien.