Comme des Garcons
Herbst/Winter 05

Die ersten Menschen, nackt, schlotternd vor Kälte schon bei dem ersten, noch nicht einmal herbstlichen Wind: Mühevoll und händisch wird ein Zotteltier erschlagen, mit steinernen Klingen wird ihm das Fleisch vom Pelz geschabt, die Umhänge, die daraus angefertigt wurden, die passten ganz sicher nicht recht auf die Körper ihrer Träger. Das man seine Kleidung "trägt", dieser Begriff entstammt mit Sicherheit dem nachgespürten Komfort zur Steinzeit. Als Primitiver bekam man es zu spüren, was man sich angezogen hatte. Schon der schlichteste Poncho aus, sagen wir: ungegerbter Mammuthaut, zwang den Träger unter seinem Gewicht in die Knie. Kleidung in primitiven Zeiten: Ein Zwitter aus Höhle und Habit; halb damit unterwegs und währenddessen darin zu Hause.

Anfang der siebziger Jahre kam es zu einer seltsamen Wiederauferstehung des primitiven Looks mitten in der Moderne: Die so genannten Moon-Boots, gefütterte Stiefel mit einer Außenhaut aus Kunst-oder echtem Pelz, wahlweise auch gesteppter Synthetik, machten es ihren Trägern unmöglich, noch irgendwie elegant zu erscheinen (geschweige denn: aufzutreten). Vielmehr sah es danach aus, als sei der in Moon-Boots Auftretende kurz zuvor in etwas Haariges, eventuell bis dahin lebendiges getreten und stapfe nun mit Kadaver-verklebten Füßen umher. Was elegante Russinnen auf dem Kopf zu tragen pflegen, das hing dem Moon-Boots-Freund ganz zuunterst; noch heute lässt sich diese Stiefelmode in den vermeintlich noblen Skiorten besichtigen.

Der tonnenschwere Poncho des Primitiven und der Pelzknobelbecher des Reichen helfen, als Beispiele genommen, einen neuerlichen Trend zu grotesk geschnittenen Kleidungsstücken zu verstehen: In den Filmen, die zur Steinzeit spielen oder in nachfolgenden, kaum weniger barbarischen Epochen, sind die Darsteller nach modernem Geschmack gekleidet. Die asymmetrisch zugeschnittenen Felle sitzen eng an den Leibern, die Amazonen tragen Minirock. Die Ausstattung solcher Filme versucht, die Dargestellten nicht im Vorhinein zu korrumpieren, indem sie diese die zusammengestümperten Häute und Filzwülste tragen lässt, die deren Vorbilder in Wahrheit jedoch getragen haben werden.

Das freiwillige Tragen von komisch wirkender Kleidung in unseren Zeiten, wo es doch in tausenden von Geschäften per- fekt sitzende, die Figur eines beinahe jeden vorteilhaft zur Geltung bringende Mode aus angenehmsten Materialien in allen Preislagen gibt, bedeutet einen ebenso freiwilligen Rückschritt ins Primitive. Die Modeindustrie hat mit dem Apothekergewerbe nichts zu tun, sie macht lediglich Vorschläge. Was die Modeindustrie jedoch sehr wohl zu haben scheint, das ist ein recht feines Gespür für die noch so unterdrückten Impulse, die in den Verästelungen der Gesellschaft vor sich hin tuckern.

Der Einzelne, als umherwandelnder, redender Körper genommen, macht nur in selten werdenden Fällen etwas her. Kaum jemand, der noch einen Namen trägt, den man sich merken wollte. Stetiges Umherreisen, das Auftauchen mal hier, mal da, der Eindruck allgemeiner Unbehaustheit und von daher auch einer gewissen Willkür des Zusammentreffens auf Eröffnungen, Partys, geschäftlichen Besprechungen lassen die Einzelnen unverbunden, dabei aber nicht frei, eher: umhergewirbelt erscheinen. Ungefähr zu der Zeit, als das Tragen der Moon-Boots modisch war, konnte man über einen mit auffälligem Benehmen oder Erscheinungsbild noch sagen: "Der ist eine echte Marke!"

Marken sind öde

Es ist, wie gesagt, eine Weile her, inzwischen will gar niemand mehr auch nur als Marke verdächtigt werden. Marken sind öde. Worum es allein gehen soll ist: der Mensch. Und zwar: an sich. Das Problem an diesem eigentlich schönen Wunsch ist, dass das Leben der allermeisten Menschen an sich nicht mehr dazu taugt, von ihren fraglos vorhandenen menschlichen Eigenschaften genügend mitteilen zu können, um ein griffiges Bild entstehen lassen zu können. Was einmal als Charakter bezeichnet wurde, erscheint im Verteilungsrondell der Netzwerke als vor allem hinderlich. Eine gewisse Zunahme an gestanzten Redewendungen und Phrasen, deren Inhalte genau jene menschlichen Eigenschaften wie Mitleid, Scham, Ehrgefühl et cetera wiedergeben sollen, wird zwar beklagt, ist aber dennoch nicht aufzuhalten. Der in den Siebzigern vorausgeahnte Fluch der Moderne, nämlich dass sie die Menschen selbst zu Marken und Gütern formen könnte: Er hat uns letztendlich nun doch ereilt.

Und dennoch hat noch keiner von uns ein Herz aus weder Gold noch Stein. Begegnet man sich in dem allumfassenden Korsett aus Geld und Beziehungen und Angst vor dem Absturz, kann es doch nur hilfreich sein, wenn man Accessoires sein Eigen nennt, die dabei helfen, eine wahre menschliche Seite hervorzukehren; meint in unseren Tagen: die Schwäche. Wie schwach wirkt doch ein Mann in einem Hemd, dessen Ärmel ihm bis zu den Knien hängen - beim Winken wedelt er mit seiner Friedensfahne, früher hätte man noch geglaubt, er sei verwirrt, heute macht genau dieses täppische Hemd ihn zu einem Souverän. Der hat es nicht nötig, sich ein Hemd anzuziehen, das so gut sitzt, wie die der anderen. Er trägt ein ironisches Hemd und kraft seines Hemdes zwinkert er uns dabei zu. Die Dame, deren Stiefel scheinbar endlos weitergehen, sie trägt eine lederne Rüstung am Bein, die sicher ziemlich gut heizt. Sofort beginnt man gegen den Gedanken anzusteuern, warum diese Frau sich derart unbequeme Stiefel gewünscht hat.

Den Mann im Hemd, die Frau mit den Stiefeln, so schnell vergessen wir die nicht wieder. Um solche Kleidung muss man sich beinahe kümmern wie um ein Kind. Es ist ja ständig etwas im Weg, stört, muss zurückgeschoben, will getragen werden. Für viele bedeutet das einen Trost, sie fühlen sich nicht mehr so allein, sie haben ja jetzt ihre Tasche. Oder die Stiefel, das Shirt. Man besitzt etwas, worüber man mit anderen reden kann - nicht bloß den öden Marken-Talk!, die absurden Kleider sind ja wie Lebewesen, sie stellen Ansprüche an ihren Träger . . .

Zwittrige Erscheinungen, zwischen Habit und Höhle irgendwie

Auf eine Ausstellungseröffnung in London kamen neulich gleich vier Damen mit übergroß dimensionierten Handtaschen. Man konnte es gut beobachten, wie sie sich unwillkürlich begrüßen mussten, aufgrund ihrer Vorliebe für dasselbe Modell. Noch bedeutet der Besitz solcher Kleidung und Stücke die Avantgarde. Das Ausdifferenzieren in verschiedenste Preis- und Leistungsklassen innerhalb der Kategorie überdimensionierte Mode wird erst übermorgen beginnen. Mode handelt ja brutal vom Fortschritt, der nächste wird ein weiterer in Richtung Primitivität und eigentlich also Kunst oder Witz: zeltartige Kleidung. Zwittrige Erscheinungen, zwischen Habit und Höhle irgendwie. Dorthin führt nun mal unser Weg. (Der Standard/rondo/Joachim Bessing/05/11/2004)