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Artur Schnabel, um 1935

Foto: Ilse Bing, Artur-Schnabel-Archiv, Stiftung Archiv der Akadmie der Künste, Berlin
Sogar der alte Brahms, der gern mit seinen Freunden und deren Schülern spazieren ging, hat oft auch den jungen Artur Schnabel mitgenommen. "Brahms behandelte mich stets auf die gleiche Weise: Vor einer Mahlzeit fragte er mich, ob ich Hunger habe; danach, ob ich satt geworden sei. Das war alles. Warum auch hätte er sich mit einem Kinde unterhalten sollen." So berichtet der witzige, zugleich tiefgründige Pianist - der Chopin als bloßen Melodiker verachtete (er nannte ihn: "rechtshändiger Genius") und von seinen eigenen Klavierabenden selbstironisch sagte, sie seien auch nach der Pause langweilig.

Dafür ist er Begründer moderner und umfassender Beethoven-Interpretation von radikaler Geistigkeit gewesen. Bereits in den 20ern führte er alle Sonaten als Zyklus auf. Schnabel brachte in den 30er-Jahren die allererste vollständige Einspielung der 32 Sonaten heraus. Entdeckte zudem Schuberts damals unterschätztes Sonaten-Werk: Kein Komponist, so sagte er, sei näher an Gott gewesen als Schubert. Nach wie vor bezwingt die Ausdrucksgewalt, die Tiefe und Strenge, mit welcher Schnabel die Adagios und Largos, zumal in Beethovens frühen Sonaten (Opus 2 und Opus 7) gestaltet.

Grandios wirkt die Konsequenz, mit der Schnabel den Kopfsatz der Beethoven'schen "Appassionata" in einen fahl endenden Horrorroman verwandelt. Das berühmte Klopfmotiv aus der 5. Symphonie, das im G-Dur-Klavierkonzert gleichsam lyrisch verzaubert erscheint, wird in der "Appassionata" zum Vorboten, zum Signal wilder Erregung und eisiger Zerstörung.

Schnabel deutet diesen Prozess bereits zu Beginn des Satzes an. Konsequent lässt er uns erleben, wie Beethoven die thematischen Gestalten nacheinander vor Gericht stellt. Vor der Reprise, wo im erregten Bass des Themas noch die Gewalt der Durchführung nachzuzittern scheint, donnert das Fortissimo-Klopf-Thema tatsächlich achtmal nacheinander! Schnabels tiefgründige, radikale Geistigkeit, sein Erspüren dramatischer Verläufe, wo andere nur vitale Töne hören, wirkte seinerzeit ungemein "deutsch". Als er nach der Emigration in Jerusalem spielte, war er enttäuscht, dort keineswegs den gleichen enthusiastischen Erfolg zu haben wie zuvor in Berlin. Man tröstete ihn: "Das eigentliche jüdische Instrument ist die Fiedel." Und schon sein Lehrer Theodor Leschetitzky hatte ihm einst gesagt: "Aus dir wird nie ein Pianist. Du bist ein Musiker." Doch als genialer Musiker entdeckt er die Bedeutung der Schubert'schen Klaviersonaten. Seine Einspielung der späten B-Dur-Sonate geriet zum Kultstück. Voll ehrfürchtiger Andacht steigert Schnabel die Abschied nehmenden Rätselharmonien des Andante. Gebannt von solcher Ewigkeitsmusik nehmen wir die Mängel einstiger Aufnahmetechnik kaum mehr wahr. (DER STANDARD, Printausgabe, 5.11.2004)