Die Ablehnung von Abtreibung und Homo-Ehe waren George Bushs zugkräftigstes Argument für seine Wiederwahl zum US-Präsidenten. Seine "moralischen Werte" bezeichneten 80 Prozent der Bush-Wähler, noch vor Krieg und Terror, als das wichtigste Thema. Das ergaben Wählerbefragungen, aus denen die Washington Post und weitere führende US-Medien übereinstimmend zitieren.

Und das kurz nach dem "Fall Rocco Buttiglione", der vom Europaparlament als EU- Kommissar abgelehnt wurde, eben weil er seine persönlichen, religiös motivierten Vorbehalte gegen Homosexualität ("Sünde") und Alleinerzieherinnen ("schlechte Mütter") bekannte. Die beiden folgenschweren Ereignisse sind ein Warnsignal für die Entwicklung der transatlantischen Beziehungen: Zwischen den USA und Europa liegen Welten, und sie driften, was das Staatsverständnis betrifft, weiter auseinander.

Von den US-Wählern, die regelmäßig Gotteshäuser besuchen - und das sind dort 40 Prozent - entschieden sich zwei Drittel für Bush. Selbst unter den Katholiken fand er eine Mehrheit, obwohl mit John Kerry erstmals seit John F. Kennedy einer der ihren zur Wahl stand. Und Faszination für Bush, der sein Sendungsbewusstsein vor sich herträgt, gab es nicht nur auf dem Land. Auch in den Städten legte er um elf Prozent zu. Sogar ein Rekordanteil von 43 Prozent der für "Familienwerte" empfänglichen Latinos stimmte für Bush, obwohl sich die wirtschaftliche Lage vieler von ihnen in den vergangenen vier Jahren verschlechtert hat. Mit Moral im Sinn von tugendhaftem Handeln hat die von den christlichen US-Fundamentalisten entfachte Wertedebatte jedoch nur bedingt zu tun. "Wenn ein Unternehmer zur Gewinnmaximierung seine Leute feuert, gilt das nicht als unmoralisch", sagte eine US-Professorin dem Autor. Auch Kriegsbegeisterung, Waffenfetischismus und Todesstrafe lassen sich mit diesen Werten vereinbaren. Traditionelle ethische Regeln soll die Politik vor allem im Sexualbereich verteidigen.

Die Wähler in elf US-Bundesstaaten haben in Referenden am Wahltag für ein ausdrückliches Verbot der Homo- Ehe gestimmt. Und Führer der religiösen Rechten haben bereits angekündigt, dass sie von Bush verlangen werden, bei den anstehenden Nachbesetzungen am Supreme Court Höchstrichter zu bestellen, die die Straffreiheit von Abtreibungen zurückdrängen. Die christlichen Fundamentalisten sind in den USA so stark, dass liberale Kommentatoren für die derzeit Toleranz predigenden Demokraten nur dann eine Chance zur Rückkehr an die Macht sehen, wenn auch sie deren Grundwerte glaubhaft vertreten.

Wie anders ist da Europa: Als der italienische Christdemokrat und Papstberater Buttiglione bei linken und liberalen Europaabgeordneten als EU-Justizkommissar auf Ablehnung stieß, fand er nicht einmal unter Konservativen massive Unterstützung. Es sprach ihm niemand das Recht ab, persönlich traditionelle katholische Überzeugungen zu hegen. Aber im europäischen Staatsverständnis herrscht Konsens darüber, dass Religion Privatsache ist.

In der über dem Alltagsleben schwebenden Sphäre der europäischen (und der österreichischen) Verfassung versuchten christliche Politiker schon einen Bezug auf Gott unterzubringen. Beim ethischen Normensystem hüten sie sich aber, auch hier zu Lande, Gesetze gemäß dem religiösen Dogma zu verlangen. So lehnte die ÖVP die Homo- Ehe zwar ab, sprach sich aber gegen jegliche Diskriminierung aus. In der Frage der Abtreibung steht auch die Volkspartei zur im Gesetz festgeschriebenen Fristenlösung.

Es gibt in Europa natürlich bereits Stimmen, die eine Annäherung an die USA fordern, so wie im Kalten Krieg so genannte Atlantiker jeden Schwenk der US-Politik mitmachten. Raketenaufstellungen zu bejahen oder notfalls das Rauchen aufzugeben scheint aber für Europäer einfacher zu sein, als den Glauben und nicht die Vernunft zur Grundlage ihres politischen Handelns zu machen. (DER STANDARD, Printausgabe, 5.11.2004)