In Paris hängen die Flaggen nicht gerade auf Halbmast. Doch die Franzosen, die sich seit dem Irakkrieg als Speerspitze gegen die Bush-Administration wähnten und es in gewisser Hinsicht auch waren, standen am Donnerstag noch wie unter Schock nach dem klaren Verdikt der amerikanischen Wähler.

Wenige wurden so deutlich wie der Sozialist Jack Lang, der die Wahl des "Kriegers" Bush bedauert, oder die Grünen, die von einem "Tag der Trauer" sprachen. Aber die meisten Politiker und Parteien denken ähnlich. Die meisten hatten mehr oder weniger offen mit einem Sieg John Kerrys gerechnet.

Staatspräsident Jacques Chirac schickte ein freundliches Gratulationstelegramm nach Washington, das indessen nicht gerade ein Ausbruch ungezügelter Herzlichkeit war. Die beiden Staatsoberhäupter hatten bisher keinerlei Draht zueinander und gingen einander tunlichst aus dem Weg.

Chirac ist allerdings ein Meister darin, seine persönlichen Gefühle hintanzustellen; bei den letzten deutschen Wahlen hatte er auch auf den Unions-Kanzlerkandidaten Edmund Stoiber gesetzt – um nach Vorliegen des Ergebnissen sogleich und auf ungekünstelte Weise den Kontakt mit dem siegreichen Titelverteidiger Gerhard Schröder herzustellen.

Heikles Thema Irak

Der Katzenjammer, der in Frankreich nach den US-Wahlen weit verbreitet ist, herrscht aber im Elysée-Palast nicht unbedingt. Chirac dürfte letztlich gar nicht so enttäuscht sein über den Sieg von George W. Bush. Und dies aus einem doppelten Grund.

Wenn ein Präsident Kerry die Europäer höflich um militärische Hilfe im Irak angegangen wäre, hätte Chirac kaum ablehnen können, wie er das gegenüber Bush bisher tat – und wohl auch in Zukunft tun wird.

Nun kommt die französische Diplomatie darum he^rum, ihren Kurs im Nahen und Mittleren Osten grundsätzlich neu auszurichten und zum Beispiel auch über die dornenreiche Frage einer Entsendung von Schutztruppen in den Irak nachzudenken.

Bei Chirac kommt außerdem ein persönliches Motiv hinzu: Mit der Volksbefragung zur EU-Verfassung und der Debatte über einen Beitritt‑ der Türkei zur Europäischen Union hat der französische Präsident schon genug Probleme am Hals, als dass er sich auch noch im Irak außenpolitische Knacknüsse einhandeln wollte.

Wenn Chirac mit dem amerikanischen Wahlausgang eher gut leben kann, liegt das gerade auch im Umstand, dass Bush unter den Franzosen so wenig Sympathien genießt. Der Texaner gibt eine ausgezeichnete Zielscheibe für Chiracs Lieblingskritik an der "hegemonistischen" oder zumindest "unilateralen" Diplomatie Washingtons ab.

Bei einem Sieg Kerrys hätte sich Chirac kaum noch als geradliniger Staatsmann, Hüter des Völkerrechts und Verteidiger der Dritten Welt wider den amerikanische "Imperialismus" (das Wort benützte am Donnerstag auch Jack Lang) profilieren können. Mit der Wiederwahl von Bush kann er das weiter tun. (DER STANDARD, Print-Ausgabe vom 5.11.2004)