Gesellschaft" ist ein sprödes Konstrukt, das zumeist als kalt und hart, oftmals auch ungerecht erfahren wird. Das Humane in ihr ist wohl eher die Ausnahme als Selbstverständlichkeit, wie Bürgerkriege und Terror dies immer wieder in aller Deutlichkeit vorführen. Dass Soziologen von der Frage nicht ablassen, was "Gesellschaft" denn ausmacht, erstaunt ebenso wenig wie die offen gebliebene Antwort, die alles Zählen, Messen und Beschreiben nicht liefern kann.

Da interessieren die Bruchstellen viel mehr, die im Funktionsgefüge etwas sonst nicht Offensichtliches erkennen lassen. Das Buch Die Gesellschaft des Terrors bietet einen solchen Erkenntniswert, der sich vor allem um das Verhältnis von Individuum und politischem Totalitarismus dreht. Hier geht es um die Häftlingsgesellschaft, geschrieben aus der Binnenperspektive von Menschen in Konzentrationslagern.

Diese Publikation hat eine eigenartige Geschichte, denn der zugrunde liegende Text ist Teil einer soziologischen Dissertation, die 1943 verfasst und 1951 an der Columbia University in New York eingereicht, jedoch nie gedruckt wurde. Augenzeugenbericht und wissenschaftliche Analyse zugleich, ist diese Studie ein bemerkenswertes historisches wie wissenschaftliches Dokument, das nun auf Betreiben der Herausgeber erstmals übersetzt und, versehen mit einem kompetenten Nachwort, publiziert wurde.

Paul Neurath (1911-2001) wird manchen Lesern noch als Lehrer an der Universität Wien in Erinnerung sein. Kaum ein Student kannte die Einzelheiten seiner persönlichen Geschichte, seine Lehre bezog sich auf empirische Methoden und Statistik. Das war einst nicht so angesagt wie die "Dialektik" der Frankfurter Emigranten, nahezu mythische Gestalten, deren Bücher zur Pflichtlektüre kritischer Geister gehörten. Ein möglicher Anknüpfungspunkt, das Erbe seines berühmten Vaters Otto Neurath aus der Zwischenkriegszeit, blieb auch eher unbekannt: Paul nahm auf das Projekt der Bildersprache gelegentlich vor Fachpublikum Bezug, wirklich wieder belebt hat die Tradition soziologischer Aufklärung des Gesellschafts- und Wirtschaftsmuseums aber niemand.

Im amerikanischen Exil, wohin er 1941 nach einem Aufenthalt in Schweden gelangte, arbeitete Paul Neurath als Forschungsassistent bei Paul Lazarsfeld, einem der bekanntesten österreichischen Emigranten. Nach dem Krieg führten ihn seine Forschungsprojekte unter anderem nach Indien, wo er Radio-Research betrieb. Über Köln ging es später dann zurück nach Wien, wo Paul Neurath (neben einer Lehrstelle in New York) am neu gegründeten sozialwissenschaftlichen Institut für Höhere Studien arbeitete und sich mit dem halbherzigen Hin und Her wechselnder Gast-und Honorarprofessuren an der Universität Wien zufrieden geben musste.

Dass seine eigene Studie aus der NS-Zeit erst nach so langer Zeit veröffentlicht wird, hat zwei Gründe. Erstens gab es unmittelbar nach Kriegsende die grauenvollen Filmbilder aus den Vernichtungslagern, die die amerikanische Öffentlichkeit mehr in den Bann zogen als aufgeschriebene Beobachtungen und Reflexionen. Und zweitens hat sich im Herkunftsland des Autors - Österreich, dem Land der diskreten Kumpanei zwischen "entnazifizierten" Professoren und ihren akademischen Protegees - lange Zeit niemand ernsthaft für das Vermächtnis der ins Exil getriebenen Intellektuellen interessiert. Studie, Bericht oder politische Analyse - wie lässt sich Die Gesellschaft des Terrors nun einordnen? Geschildert wird der Albtraum einer Gestapo-Verhaftung in Wien, wenige Stunden nach dem "Anschluss", der Neurath sich zunächst durch Flucht entziehen kann. Sie bringt ihn zu Fuß und notdürftig gekleidet bis vor die tschechische Grenze. Dort wird er, verraten von der Landbevölkerung, verhaftet und als politischer Häftling der Gestapo übergeben. Der Überstellung ins Konzentrationslager geht kein Prozess voran, nicht einmal eine Vernehmung.

Es ist bald klar, dass es sich um keine normale Haftanstalt handelt. Die Lager waren damals, bis kurz vor Kriegsausbruch 1939, noch keine Vernichtungslager. Dennoch waren sie Vollzugsorgan des totalitären Machtapparats und damit ein Reich jenseits von Recht und Gerechtigkeit, in welchem die Funktionäre des Totalitarismus sich austoben durften. Der Dienst im Konzentrationslager war Teil der Routineausbildung von SS-Rekruten. Die Lagererlebnisse werden geschildert. Der Text ist nirgends pathetisch, bleibt restlos nüchtern, im Tonfall eher lakonisch. Er führt das Verhalten von Menschen in existenziellen Extremsituationen vor und fragt nach dem Verhältnis von totalitärem Staat und Individuum. Theorieansprüche werden sozusagen vertagt. Die Fachgutachter der Columbia University (u.a. Robert K. Merton) fanden den Text einst zu unwissenschaftlich. Tatsächlich stellt er den Versuch einer dichten Beschreibung dar, die gänzlich frei von wissenschaftlichen Zitaten und theoretischem Überbau bleibt.

Ebenso drastisch wie diskussionswürdig hingegen sind seine theoretischen Implikationen: Faschismus, Nationalsozialismus und Terror werden weder aus psychologischen noch aus politischen oder ökonomischen Gründen heraus erklärbar. Doch an den Scharnieren der Gesellschaft - also dort, wo die Dinge konkret ausgelebt werden - lassen sich Verhaltensweisen in ihrer Unterschiedlichkeit beschreiben und interpretieren. Für Neurath sind strikt Gruppenzugehörigkeit und sozialer Hintergrund die Folie der Interpretation, die kein Versuch sein will, irgendetwas zu "verstehen". Nicht der Stacheldraht des Konzentrationslagers trennt die Häftlingsgesellschaft von den normalen Menschen, sondern hier wie dort sind es die realen Machtverhältnisse, an denen sich das Verhalten im Einzelnen ausrichtet. Es ist das lückenlose System von Bestrafung und Überwachung, das in jede Alltagsroutine einsickert und groteske Formen annimmt. Rebellion dagegen war wenig erfolgversprechend, und so reduziert sich die Überlebensstrategie darauf, der bis hin zum Selbstmord tendierenden Resignation zu entsagen.

Nach 14 Monaten gelingt die Entlassung aus Buchenwald dank einer Freundin namens Lucie, deren Bemühungen um ein Ausreisevisum für den KZ-Häftling Neurath letztlich erfolgreich waren. Sein Bericht wird durch ein Nachwort legitimiert, in dem der Autor seinen wissenschaftlichen Anspruch mit der "Validität der Beobachtungen" aufrichtig versichert. Schließlich hatte er keinerlei Aufzeichnungsmöglichkeiten und beruft sich allein auf seine Erinnerung: "Was der Häftling nicht im Kopf hat, kann er nicht mitnehmen." Eine wissenschaftliche Distanz hat er sich letztlich dennoch abgerungen. (Frank Hartmann/DER STANDARD, Print-Ausgabe, 6./7. 11. 2004)