Die Erwartung, den Regierungswechsel in Österreich als "Einzug der Normalität" zu erleben, hat sich noch nicht erfüllt. Die Sehnsucht nach einem politischen Wandel war verständlich. Die Koalition der Vergangenheit und die mit ihr verbundene Erstarrung des politischen Systems haben ein geradezu unbändiges Verlangen nach etwas Anderem, nach etwas Neuem geweckt. Normalität bedeutet die Möglichkeit politischen Wandels in demokratischen Formen und die Selbstverständlichkeit, solche Veränderungen zur Kenntnis zu nehmen.

Dass Bürger eines Landes gegen ihre Regierung demonstrieren, ist ein Teil der Normalität der Demokratie. Die Anomalien unserer gegenwärtigen politischen Kultur zeigen sich in vielen anderen Ereignissen. Da stellt eine Koalitionsregierung ihrem Arbeitsübereinkommen eine Präambel voll von Bekenntnissen voraus, von denen man bisher glaubte, dass sie selbstverständlicher Bestandteil einer österreichischen Normalität seien. Der Bundespräsident gibt seinen Amtskollegen aus den mitteleuropäischen Nachbarstaaten das Ehrenwort, dass Österreich von seinem europapolitischen Kurs nicht abweichen werde. Jörg Haider warnt in Sofia die EU, sie solle Bulgarien nicht vernachlässigen - grotesk, wenn man an seine Positionen in der Osterweiterung denkt.

Der "Rieder Ausritt" des Kärntner Landeshauptmanns zeigt einmal mehr das Dilemma der Regierung auf: Es wird nicht mehr ausreichen, dass Schüssel Haider einen Wandel im Denken und Besserungsfähigkeit attestiert und Riess-Passer inständig bittet, bei den Äußerungen ihres früheren Parteiobmanns "nicht alles auf die Waagschale zu legen". Kanzler und Vizekanzlerin müssen die Besserungsunfähigkeit des Co-Architekten der schwarz-blauen Koalition zur Kenntnis nehmen. Wenn Regieren in Österreich in Zukunft nur mehr Schadensbegrenzung bedeutet, ergeben sich düstere Zukunftsprognosen.

EU-"Dreistigkeit"

Anomalien gibt es nicht nur hierzulande, sie haben auch "Europaformat". Die Androhung von Sanktionen nach Artikel 7 des Vertrags von Amsterdam ist geradezu dreist. Glaubt jemand ernsthaft, dass es in Österreich "schwerwiegende und anhaltende Verletzungen" der Demokratie, der Menschenrechte und des Rechtsstaates gibt? Wie soll man da dem Volk erklären, dass der Bann der EU gegen unser Land nicht nur überzogen ist, sondern Ausdruck einer Strategie des politischen Opportunismus, der die Doppelbödigkeit widerspiegelt, mit der die Moralisierer in Brüssel zuweilen agieren. Die Aufgabe, mit der Österreich konfrontiert ist, wird hart genug sein: Man muss nicht nur der EU gegenüber permanent die Treue zu den Grundsätzen nachweisen, man wird auch den Österreichern erklären müssen, dass diese Europäische Union nach wie vor die einzige Alternative für die Zukunft unseres Kontinents ist und Österreich unverdrossen und engagiert am europäischen Einigungswerk mitwirken muss.

Neue Spielregeln

Die Auseinandersetzungen mit der internationalen Kritik sind eine Seite der Medaille. Sie werden lange andauern. Die andere Seite zeigt sich in der Frage, wie dieses Land in Zukunft regiert werden kann. Die Konkordanzdemokratie scheint vorbei zu sein, noch wissen wir aber nicht, nach welchen Spielregeln die neue Konkurrenzdemokratie funktionieren wird. Die Institutionen dieser Republik sind lädiert. Die Regierung steht im Kreuzfeuer, der Bundespräsident hat erhebliche Blessuren in seiner Reputation hinnehmen müssen. Das Parlament hat eine Chance, fairen politischen Wettbewerb sichtbar zu machen. Ob es dazu in der Lage ist, ist noch nicht zu beantworten.

Die Regierungsmehrheit hat ein Programm vorgelegt, das in manchen Punkten durchaus Beachtung verdient. Kann sie es verwirklichen? Sie besitzt keine Mehrheit für Verfassungsänderungen. Die frühere Praxis, alles Mögliche durch Verfassungsbestimmungen abzusichern, erweist sich nun als Fessel für notwendige Reformen.

Die Kernfragen der Zukunft unseres politischen Systems betreffen vor allem die politischen Parteien. Die Sozialdemokratie befindet sich in einer Strukturkrise. Die ÖVP braucht eine Neuorientierung, die noch nicht zu erkennen ist. Wenn sie in einer "Mitte-Rechts-Regierung" sein will, wird sie deutlich machen müssen, dass sie die "Mitte" ist. Die Gefahr, dass diese Regierung zu einer Rechts-Regierung mutiert, ist nicht von der Hand zu weisen. Bei der FPÖ stellt sich die Frage, ob sie sich von der Unberechenbarkeit und dem Populismus ihres Parteiobmannes emanzipieren kann.

Zwar scheint es richtig zu sein, dass die Ereignisse der vergangenen Monate offensichtlich zu ein Repolitisierung in weiten Teilen der Bevölkerung geführt haben. Es erhebt sich allerdings die Frage, ob und wie die Politik dem Rechnung tragen wird. Der "Kurswechsel" der FPÖ in vielen Sachfragen muss erst überzeugend bewiesen werden. Jene Repräsentanten der ÖVP, die für den Fall einer Koalition mit der FPÖ besondere persönliche Konsequenzen ankündigrten, die sie dann nicht gezogen haben, werden einiges zu tun haben, um ihren plötzlichen Gesinnungswandel als verantwortungsvolles Handeln darzustellen.

Die Zukunftsperspektiven sind voll von Ungewissheiten. Österreich braucht nicht nur eine Allianz der Vernunft, es braucht vor allem auch eine Allianz der Glaubwürdigen. Eloquente Wendigkeit allein reicht nicht aus, um Polarisierungen zu verhindern. Der berühmte Stehsatz, man solle die Regierung an ihren Taten messen, gilt im Übrigen auch für die Opposition.

Univ.-Prof. Dr. Heinrich Neisser, früher Zweiter Nationalratspräsident (ÖVP) ist nun Politikwissenschaftsprofessor an der Uni Innsbruck.