Mit ihrem Roman "Schweinerei" wurde sie berühmt. Jetzt las Marie Darrieussecq bei der Wiener "Literatur im März" aus ihrem zweiten Roman: "Gespenster sehen". Welche Art von Gespenstern da gemeint sind, erläutert die in Paris lebende Autorin im STANDARD -Interview mit Sandy Lang "Hallo, ich bin Marie." Man kann locker sein, wenn man ein so originelles und erfolgreiches Buch wie "Schweinerei" geschrieben hat. Wenn man, wie die junge französische Romanautorin Marie Darrieussecq, eine Sprache fand, die mit Humor und schierer Lust am Leben die Brutalität einer materialistischen Gesellschaft beschreibt. Einer Gesellschaft, die als "Sauerei" alles andere empfindet, nur nicht sich selbst. Ein Täuschungsmanöver, auf das Darrieussecq nicht hereinfällt: "Es ist heute eben politisch korrekt, ein Schwein zu sein. Finden Sie nicht?" Die 31-jährige, aus der südfranzösischen Kleinstadt Bayonne stammende Schriftstellerin, ein "Kind der Arbeiterklasse", kam zur "Literatur im März" nach Wien. Zum diesjährigen Generalthema "Transzendenz" schien ihr zweiter, 1998 erschienener Roman "Gespenster sehen" zu passen. Dass sie neben 30 geladenen Autoren eine der drei Autorinnen ist, passt dagegen doch eher zum ersten Roman. Nach Wien zu kommen ist "derzeit ein politischer Akt. Aber ich bin nicht Lou Reed, der mit einer Österreich-Absage schockieren kann. Wir haben in Frankreich auch Rechtsextreme, und ich habe mir vorgestellt, wie es umgekehrt wäre: Wenn man uns Intellektuelle isolieren würde, weil eine rechtsextreme Minderheit politisch am Ruder ist. Deshalb bin ich gekommen." Darrieussecq notierte sich Donnerstag nachmittag den Namen des auffälligsten Opernballbesuchers, des Schauspielers im Hitlerkostüm, dessen Bild auch durch die französische Presse ging: "Monsieur Übsi Kramar. Eine tolle Aktion. Da fährt ein weißer Rolls-Royce vor die Oper und schon öffnet die Polizei die Absperrung. Voilà, so gewährt Österreich Hitler, dem Gespenst aus der Geschichte, Zutritt in die Politik. Der materialisierte Geist der nationalsozialistischen Vergangenheit tanzt auf dem Ball:Jörg Haider." Standard: Was ist für Sie das Schockierende an Jörg Haider ? Darrieussecq: Dass er wirklich einige Dinge am Nationalsozialismus für gut befindet. Man kann aber am Nationalsozialismus nicht einfach etwas herausnehmen, um es für ,,gut" zu befinden. Das ist böse. Aber ich frage mich, wie es überhaupt dazu kommen konnte, dass in Österreich eine FPÖ mitregiert. Standard In ihrem Romandebut ,,Schweinerei" gibt es eine Figur, den Generaldirektor ,,Edgar", der seine Gewalttätigkeit durch seine berufliche Position legitimiert. Eine Schreckensvision. Sehen Sie persönlich die Gesellschaft als eine solche, in der Menschen wie artige Zuchttiere einem patriachalen System unterliegen? Darrieussecq: Nein. Grundsätzlich denke ich nicht in Geschlechter-Kategorien. Das bringt uns nicht weiter. ,,Schweinerei" ist ein Alptraum, die Schreckensvision einer total inhumanen Gesellschaft, zu der es nie kommen darf. Aber wir müssen uns darüber klar sein, das das Schlimmste immer passieren kann. Bei der Figur des 'Edgar' habe ich an Le Pen gedacht. Trotzdem: Wir sind Menschen, in denen Gut und Böse nicht zu trennen sind. Standard: Das Gespenstische in der Gegenwart erlangt in Ihrem Roman "Gespenster sehen"eine physische Präsenz: Die Ich-Erzählerin kommt durch das plötzliche Verschwinden ihres Ehemannes zu einer besonders konzentrierten Wahrnehmung von Körper und Geist. Das ist das Gegenteil der gewohnten Vorstellung des Irrationalen, der Esoterik. Darrieussecq: Ich glaube, Transzendenz ist nicht so sehr nur etwas, das man mit überirdischen Erfahrungen in Verbindung bringen sollte. Mich interessiert das, was sich an Geistern im Hier und Jetzt verbirgt. Ich sehe es als Aufgabe meiner Generation, diesen Gespenstern - wie es schon die englischen Vertreter der phantastischen Literatur gemacht haben - eine Stimme zu geben. Standard: Welche Geister bestimmen das Hier und Jetzt? Darrieussecq: Da sind vornehmlich die sechs Millionen ermordeten Juden, die verschwunden sind, und über die zu reden, die zu beklagen man in Österreich noch immer nicht den Mut fand. Dann gibt es das uralte Gespenst Sexismus, all die versteckten Gespenster in der Familie, das abgetriebene Geschwisterchen, das verheimlicht wird, der Vater, der gar nicht der richtige Vater ist. Man spürt, dass etwas nicht stimmt. Aber man redet nicht darüber. Die Gesellschaft schafft immer wieder neue Phantome. Sie wird nicht glücklicher damit. Standard: Wie bekämpft man das Gespenst des Sexismus? Was halten Sie als jemand, der Manifeste für das Recht der Frau auf Abtreibung unterschreibt, von Frauennetzwerken? Darrieussecq: Ich halte etwas von 'Menschennetzwerken'. Es ist nicht gut, Geschlechter in zwei Gruppen einzuteilen. Standard: Das Recht auf Abtreibung, das Sie für Frauen verlangen, dürfte Ihnen bei Vertretern der katholischen Kirche wohl keine Symphatie eintragen. Darrieussecq: Ich bin Atheistin, das ist meine persönliche Freiheit. Die katholische Kirche hasst mich sicher, weil ich für das Recht auf Abtreibung eintrete. Der Katholizismus ist für mich eine ,,Männerreligion". Die Frau, ihr Körper, soll kontrollierbar sein. Das ist falsch. Frauen haben ein Recht, ihren Körper selbst zu kontrollieren. Wenn eine Frau abtreibt, bedeutet das ja auch, dass sie die volle Verantwortung als Mensch dafür trägt. Standard Wie denken Sie über Errungenschaft von Frauen, die es neben ihren männlichen Kollegen zu in der Gesellschaft angesehenen beruflichen Positionen gebracht haben? Darrieussecq: Das ist traurig für Frauen u n d Männer, wenn sie denken, dass hohe berufliche Positionen irgendeine Errungenschaft bedeuteten. In Wirklichkeit geraten sie in eine Spirale des Geldverdienes, die ihnen keine Zeit mehr zum Leben lässt. Und mit ,,Leben" meine ich die persönliche Freiheit und Unabhängigkeit, die man hat, wenn man Zeit für sich selbst hat, Zeit, über die Dinge nachzudenken, die man tut. Standard: In ,,Gespenster sehen" nimmt die einsame Ich-Erzählerin in ihrer Wohnung einen Lichtkegel an der Wand wahr, der sie gedanklich in die Helligkeit und absolute Sauberkeit eines nuklear verseuchten Sees führt, in dem alles Leben zerstört ist. Damit konfrontieren Sie die positiv besetzte Vorstellung von Licht - von den Mystikern als etwas Reines, Göttliches betrachtet bis zur heilenden Wirkung von Licht für Esoteriker der Gegenwart- mit etwas schrecklich Realem. Eine Entzauberung des Lichts ? Darrieussecq: In Russland gibt es diese nuklearverseuchten Seen, die mich erschüttert haben. Das Leben ist schmutzig, zum Glück ! Wenn man beginnt, Menschen in ,,schmutzige" und ,,saubere" zu trennen, dann ist das auch der Anfang eines faschistischen Denkens. Standard: Von Ihrem in 33 Sprachen übersetzten Debutroman "Schweinerei" wurden allein in Frankreich 250.000 Exemplare verkauft. Sie leben bescheiden in einem kleinen Appartement in Paris und sind glücklich, wie Sie sagen, sich Lebensmittel und manchmal eine Kinokarte zu leisten. Materialismus ist keine Versuchung für Sie? Darrieussecq: Mit sechs Jahren habe ich bemerkt, dass meine sehr fleißigen Eltern, die abends immer ausgelaugt vorm Fernseher einschliefen, vom Leben nichts haben, außer einen guten Job. Es ist gefährlich, wenn wir uns die Zeit zum Nachdenken nehmen lassen. Ich beschloss, kein Instrument eines Systems zu werden, das mit dem Menschen wie mit einem Zuchttier verfährt. Ich bin glücklich, dass ich mir durch mein Talent zum Schreiben eine Art Freiheit bewahren kann. Und ich mache dieses Talent für die Leser nutzbar, indem ich versuche, ihnen ihre Lebenssituation bewusster zu machen. Standard: Was lieben Sie an Alphonse Daudets meckernder Ziege, die Sie in "Gespenster sehen" mit der Erzählerin als solcher vergleichen? Darrieussecq: Ihren außerordentlichen Mut. Sie weiß um den lebensbedrohenden Wolf. Sie nimmt den Kampf auf. Sie will den Morgen erleben. Standard: Wie geht es weiter mit Marie Darrieussecq, der Mutigen, die über ihren Erfolg als Schriftstellerin hinaus, die wesentlichen Dinge des Lebens im Auge behält? Darrieussecq: Nach meinem dritten Roman Le Mal de Mer (,,Seekrank") schreibe ich an einer neuen, umfangreicheren Geschichte, in der fünf verschiedene Stimmen auftreten werden. Mein Interesse gilt derzeit den Funktionsweisen des menschlichen Gehirns. Ich versuche zu verstehen, wie es funktioniert. Nebenbei denke ich mir: Es wäre schön, Mutter zu werden.