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Es gibt Menschen, die mir nachsagen, ich sei Wienzentrist. Es gibt Wienmenschen, die mir nachsagen, ich sei Viertelzentrist. Beides ist die Unwahrheit. Die Wahrheit lautet: Ich bin Sofazentrist. Mein Beruf gestattet es mir in gewissem Ausmaß, Sofazentrist zu sein, ohne an sozialem Ansehen zu verlieren, er bietet mir sogar dazugehörige Mythen an. Meine Situation als Schaffender inmitten einer wurlerten Kleinfamilie lässt mir überdies kaum Alternativen zum Sofazentrismus.

Und: Ich liebe ihn.

Unser Sofa hat eine theoretisch nutzbare Liege- oder Lagerfläche von vier Quadratmetern. Seine beiden gleich großen Teile bilden an anderthalb Wänden unseres größten Zimmers einen rechten Winkel. In diesem Winkel steht ein niedriger Tisch, der von Krempel sämtlicher innerfamiliärer Provenienz bedeckt ist: Spielsachen, Fotos, Bilderbücher, Lesebücher, Schreibbücher, Illustrierte, Instrumente und kleine, selbst uns fremd erscheinende Kinderdetails, die irgendwo dazugehören. Wer auf dem Sofa Platz nimmt, beginnt oft geistesabwesend diese Sachen zu ordnen, abzutragen, umzuschichten und wieder aufzutürmen.

Das Sofa steht zum Teil unter einem Fenster, aus dem man, selbst wenn man flach auf dem Sofa liegt, einen alten Dachfirst und zwei Pappelwipfel vor sehr viel Himmel sehen kann. An Färbung, Besonntheitsgrad und eventueller Bewegung dieser Wipfel lassen sich Jahreszeit, Tageszeit und Wetter feststellen. Doch sind dies eigentlich Erkenntnisse für den redensartlichen Hugo, denn wir verhalten uns kaum jemals anders, nur weil ein zugiger Jännermorgen, ein drückender Julinachmittag oder eine klatschnasse Novembernacht an den und um die Pappeln zu erkennen ist.

Wir bleiben liegen oder lagern doch weiter.

Unser Sofa ist mit einem beigen, etwas gröberen und dabei unkratzigen Naturstoff bespannt, größere und kleinere Pölster von dunklerem Braun, die den Rücken stützen, liegen drauf. Wir bestellen unser Sofa wie ein Feld, kleiden es sommers mit kühlenden Baumwollstoffen, winters mit dicken Indianerdecken. Das Sofa ist also eine Landschaft, eine hochtektonische Angelegenheit voller Überraschungen. Den Löwenanteil dessen, was wir vermissen, finden wir in den Tiefen und Untiefen des Sofas. Als unsere Buben winzige Babys waren, lagen sie im Winkel des Sofas, von Pölstern beschützt, und die aus den mürben Doppelfenstern fauchende Zugluft strich über sie hinweg.

Unser Sofa ist der Austragungsort von Liebe und Disput, wer an ihm vorbeikommt, stößt meist auf jemand schon darauf Anwesenden und gesellt sich zu ihm. Alle vier finden wir bequem auf ihm Platz, und die Knödel, die unsere Buben essen müssen, um dies zu ändern, sind derweil noch Legion.

Aber selbst, wenn man am menschenleeren Sofa vorbeikommt, geht von diesem noch eine sonderbare Anziehung aus, ein Sog, ein Strudel. Noch unter dem Vorwand, im Kramuri nach etwas zu suchen, setzt man sich hin. Die Falle schnappt zu. Bald hat man sich gegen Wand und Pölster gelehnt. Etwas später ist man aus den Schuhen geschlüpft und hat die Füße zu sich hinaufgezogen. Noch etwas später wird man vielleicht eine der Decken entfalten.

Nun liege ich auf dem Sofa, und mein Geist lodert vor sich hin. In einer längst versunkenen, so genannten "Arbeitswelt" hätte ich ein Bild der Faulheit geboten, tatsächlich biete ich ein Bild der Versenkung. Der Mensch war nie gebaut, um zu sitzen. Laufen oder stehen soll er. Liegen. Oder lagern. Ein Sofa ist gut dafür. Ein Bett wäre auch gut, aber während der im Bett Liegende dazu tendiert, sich im Ich zu verkapseln und irgendwann solipsistisch einzuschlafen, bleibt der Sofalagerer durchlässig für die ganze Welt.

Ein Freund unternahm vor Jahren eine Nordafrikareise, in deren Verlauf es ihm gelang, zu einer Audienz beim greisen Großdichter Paul Bowles in dessen Wohnung in Tanger vorgelassen zu werden. Bowles, sagte der Freund, sei bewegungslos mit halb geschlossen Augen auf seinem Sofa gelegen, im seidenen Blazer, umringt von vielen, sehr viel jüngeren Menschen, und habe kaum jemals ein Wort gesagt.

Alle anderen hätten gesprochen, und am Ende, so der Freund, hätte doch alles geklungen wie aus The Sheltering Sky. Sofazentrismus auf der Metaebene. Die Auflösung des auktorialen Ichs im Liegen. Oder doch im Lagern.

Unser Sofa ist jetzt sieben Jahre alt. Es war ein Hochzeitsgeschenk und kam vom Großvater meiner Frau, der als weltgewandter, nunmehr neunzigjähriger Ingenieur der Elektrotechnik in seinem Blumengarten in Stadlau sitzt. Dieser Schurli-Opa ermunterte uns, ein gutes Sofa auszusuchen. Das taten wir. Nach ein paar Wochen kam der Opa zu uns, um sein Geschenk kennen zu lernen. Er pflichtete uns in farblichen Fragen und in jenen des Materials bei, und schließlich ließ er sich auf dem Sofa nieder, saß ruhig und bewegungslos eine Zeit lang da, ehe er sich ebenso gelassen erhob. "Ma' sitzt sehr gut", befand er, "aber aufstehn tut ma' schlecht."

Und so ist es auch.

An den Schreibtisch hätte ich gehen sollen, viel wäre zu tun gewesen. Stattdessen liege ich einstweilen, man muss es so sagen, herum. Aber der lodernde Geist! Sofaperioden sind zwar unter Umständen der vollkommene Rückzug auf die eigene Mitte, aber sie sind nicht träge. Im Gegenteil: Hinter dem scheinbar reinen Verharren in der Bequemlichkeit läuft unmerklich die Pre-Production kommender Arbeiten ab. Ich schwöre es: Irgendwann stehe ich auf, gehe federleicht an den Arbeitstisch und erledige alles wie eine Maschine.

Und kaum bin ich fertig, kehre ich zurück. (Der Standard, Printausgabe 5./6.11.2004)