Mit der Bestellung von Alberto Gonzales zum US-Justizminister verhält es sich wie mit dem sprichwörtlichen halb vollen - oder halb leeren - Glas Wasser. Optimistisch betrachtet ist der neue Mann ein klarer Fortschritt gegenüber John Ashcroft. Anders als sein bibeltreuer und stockkonservativer Vorgänger pflegt Gonzales einen pragmatischeren Umgang mit Reizthemen wie Abtreibung oder der "Affirmative Action", jener "positiven Diskriminierung", die unterschiedlichen Minderheiten zugute kommt. Konsequenterweise ist die Nominierung von Gonzales am rechten republikanischen Rand denn auch auf nur säuerliche Zustimmung gestoßen. Immerhin können sich die Rechtgläubigen damit trösten, dass ein Platz für einen konservativeren Richter im Supreme Court frei bleiben wird - als möglicher Kandidat für diesen Posten war Gonzales immer wieder genannt worden.

Gonzales’ moderat liberale Anwandlungen sind aber nur die eine Seite der Medaille. Wie Ashcroft ist er einer der Architekten des rechtsstaatlichen Skandals namens Guantánamo Bay sowie des in vielerlei Hinsicht bedenklichen "Patriot Act". Man tut sich schwer, einen Justizminister, der die Genfer Konventionen für anachronistisch hält und sich für die Folter erwärmen kann, als politische Lichtfigur zu preisen.

Die Senatoren, die ihn im Jänner noch bestätigen müssen, ehe er sein Amt antreten kann, sollten ihn sehr eingehend nach seinen Plänen und Prinzipien befragen. Denn in Gonzales’ Ressort stehen wichtige Entscheidungen an. Im Jahr 2005 werden Teile des "Patriot Act" außer Kraft treten - und wenn es nach den Fanatikern der nationalen Sicherheit geht, kann die novellierte Fassung des Gesetzes ("Patriot Act II") gar nicht scharf genug ausfallen. Bleibt zu hoffen, dass Gonzales in diesem Prozess eine vernünftigere Haltung an den Tag legen und die Bürgerrechte mehr beachten wird als bei seinen ominösen Foltergutachten. (DER STANDARD, Printausgabe, 12.11.2004)