Zürich/Berlin/Paris/London/Rom/ - Der Tod des palästinensischen Präsidenten Yasser Arafat und die künftigen Entwicklungen im Nahen Osten stehen am Freitag im Mittelpunkt zahlreicher europäischer Pressekommentare:

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Neue Zürcher Zeitung

"Mit Arafat ist einer der letzten nationalistischen Führer von der Bühne abgetreten, die in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts den Übergang von der kolonialen zur postkolonialen Weltordnung geprägt haben. Wie wenige dieser Führer ist er zur Symbolfigur geworden, in der sich die Wünsche und Hoffnungen eines Volkes verkörperten. (...) Nur der Rais war der Vertreter der Flüchtlinge in der Diaspora wie der Einwohner des Westjordanlands und des Gaza-Streifens, der Muslime wie der Christen, der Säkularen wie der Islamisten. Die Angst, die Arafats Tod in den Palästinensern auslöst, ist jene vor dem Auseinanderbrechen der Identität, die der Rais verkörperte. Diese können sie heute nicht in einem Mann wiederfinden, sondern nur in funktionierenden Institutionen, welche die demokratische Legitimation haben, im Namen aller zu sprechen, im Namen aller zu entscheiden und dereinst, so ist zu hoffen, im Namen aller Palästinenser Frieden zu schließen."

Die Welt

"Sein Tod schafft ein Machtvakuum, doch er bietet den Palästinensern auch die Chance, sich von den autokratischen und korrupten Führungsstrukturen eines Apparats zu befreien, der zum reinen Selbstzweck verkommen ist. Die Palästinenser werden nicht viel Zeit zur Trauer haben, denn sie stellen in den kommenden Wochen und Monaten die Weichen für ihre Zukunft. (...) Dabei brauchen sie Hilfe, nicht nur, aber vor allem von Israel. Die Regierung Sharon sollte um Israels willen den Zeitenwechsel in Gaza-Streifen und Westjordanland dazu nutzen, Gesprächskanäle zu öffnen zu denjenigen, die die Palästinenser als ihre neuen Führer installieren. Washington wird diesen Dialog makeln müssen. Dies wird die vielleicht größte Aufgabe Bushs in seiner zweiten Amtszeit sein."

Financial Times Deutschland

"Der Tod des Palästinenserführers ist nicht nur eine Stunde Null für sein Volk. Er eröffnet auch die historische Chance, die Spirale der Gewalt endlich anzuhalten, und den kaputt gebombten Friedensprozess wieder in Gang zu setzen. (...) Entweder gibt es eine Verhandlungslösung, an deren Ende ein palästinensischer Staat steht, der mit großzügiger Hilfe des Westens rechnen kann. Oder die Region bewegt sich immer tiefer in eine Sackgasse aus Gewalt und Elend."

taz, Berlin

"Palästinas neue Machthaber sind die alten. Nicht nur wegen der geringen Erfolgsaussichten in einem möglichen Verhandlungsprozess ist der Status der alten PLO-Garde aber höchst labil. Zu sehr haftet ihr der Vorwurf fehlenden Charismas, massiver Korruption und nachgesagter Ineffizienz an. Eine Chance hat sie nur, wenn sie sich von Anfang an als Übergangsregierung versteht, deren Legitimität sich darauf beschränkt, die Lebensverhältnisse der Palästinenser zu verbessern, demokratische Wahlen und eine Grunderneuerung der PLO herbeizuführen."

Le Figaro "Die israelische Armee ist aufgerufen, tatsächlich freie Wahlen zu gestatten. Die Soldaten werden sich wie 1996 aus den bewohnten Zonen zurückziehen müssen, damit die Bürger ohne Furcht ausländischer Einmischung ihre Wahl treffen können. Die israelische Armee wird den Kandidaten völlige Bewegungsfreiheit lassen müssen, an den Übergängen im Westjordanland ebenso wie in Ostjerusalem. (...) Verhandlungen können nicht mehr abgelehnt werden, weil Arafat als Verhandlungspartner abgelehnt wird. (Der israelische Premierminister) Ariel Sharon hat sein Alibi verloren." Liberation, Paris

"Die Nachfolger Arafats können ihre Legitimität konsolidieren, indem sie die den Palästinensern versprochene Staatsgründung weiterverfolgen. Sie können die Lage des palästinensischen Volkes eher mit Verhandlungen mit Israel als mit Kamikaze-Tätern verbessern. Dieses optimistische Szenario erscheint eher unwahrscheinlich, doch es ist angesichts der neuen Perspektiven kein reines Märchen mehr".

The Independent "Die Geschichte wird darüber richten, ob Arafat die Schuld am Scheitern der Camp-David-Gespräche des Jahres 2000 trägt. Doch wie auch immer die Vergangenheit interpretiert wird, die Gegenwart bietet eine unerwartete Gelegenheit, den Friedensprozess ein Stück voranzubringen. Der israelische Ministerpräsident hat die Unterstützung des Parlaments für einen Rückzug aus dem Gaza-Streifen bekommen. Präsident Bush steht an der Schwelle zu seiner zweiten Amtszeit und dürfte an seinen Platz in der Geschichte denken. Die Europäische Union hat ein Interesse daran, sich in der Außenpolitik geschlossen zu zeigen und will den Palästinensern bei der Entwicklung von Gaza gern helfen." La Stampa

"Arafat hatte keine Angst vor dem Tod, das ist bekannt, aber man wagt zu behaupten, dass eine solcher Zeitlupentod wie der seine - der durch die Gefahr, sich zu einer in Kairo spielenden TV-Seifenoper zu entwickeln, noch hässlicher wurde - ihn erniedrigen würde, wenn er davon wüsste. Arafat hatte davon geträumt, für immer in Jerusalem zu ruhen (...), aber es war unmöglich, dass sein ewiger Gegner, General Sharon, ihm so viel zugestehen könnte."

Dagens Nyheter, Stockholm

"Was auch immer passieren wird, es ist offensichtlich, dass der Ruf nach einem Engagement der Außenwelt lauter werden muss. Und es scheint die Bereitschaft für einen Neustart zu geben. (...) Viele glauben, dass es eine veränderte amerikanische Aktivität geben kann, wenn (Präsident George W.) Bush nicht mehr an seine Wiederwahl denken muss. Das dürfte notwendig sein. Wie die Geschichte lehrt, müssen aber auch die Partner im Konflikt selbst bereit dazu sein, das Ihrige zu tun. Der wirkliche politische Wille muss in Israel und Palästina vorhanden sein." (APA/AFP/dpa)