Warum man sich des Eindrucks nicht erwehren kann, dass manche Kommentatoren, die den Bush-Sieg als Ausdruck einer Art nationaler Gehirnerweichung interpretieren, ihre Leser/ innen für dumm verkaufen wollen. – Eine Erwiderung auf Robert Misik (im Kommentar der anderen vom 4.11.2004 ).

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Die US-Wahlen sind geschlagen; die Partei rechts, bisweilen sogar weit rechts der Mitte hat klar gewonnen. Das Ausland ist empört bis entsetzt. In so mancher europäischen Hauptstadt herrscht Untergangsstimmung. Das "dumme" Volk, gewiss geschickt manipuliert oder gar arg verhetzt, hat eindeutig "falsch" entschieden, so liest man – dieses Szenario sollte vor allem den Österreichern bekannt vorkommen.

In Anbetracht der unglücklichen Erfahrung mit verkürzten Ferndiagnosen der eigenen komplexen politischen Realität täte es gut, auch bei der Beurteilung des Wählerverhaltens anderer etwas Vorsicht walten zu lassen. Stattdessen monierte kürzlich Robert Misik an dieser Stelle, dass Amerika so gar nicht mehr seinen geliebten 30 Jahre alten Klischees ("Woodstock"!?) entspräche. Wie naiv und anmaßend zugleich! Würden wir uns etwa am einfältigen "Sound of Music"-Image messen lassen wollen?

Undemokratischer Geist

Welch undemokratischem Geist gerade dieser Kommentar entsprungen ist, zeigt die Verteufelung aller Bush-Wähler als "Rednecks, Bibelfreunde und sonstiges Gesock von White America" – die Erkenntnis, dass Bush auch zunehmend von Hispanics gewählt wurde, wäre ja bereits zu viel an Analyse gewesen. Doch weil man sich in Sachen Geopolitik ohnehin umfassend informiert wähnt und Dank Michael Moore auch den Durchblick zu haben glaubt, wie Amerika funktioniert, kann man von Wien aus den bigotten Hinterwäldlern in Ohio schon mal die Welt erklären.

Die "wahre" Interessen der Wähler?

Verständlich daher, dass man aus mehreren tausend Kilometer Entfernung die "wahren" Interessen der betroffenen Wähler besser einzuschätzen vermag als diese selber. Entsetzlich auch, dass die Meinung des Auslandes so gar nicht berücksichtigt wurde – offenbar hat man hierzulande die "Jetzt-erst-recht"-Kampagne international ungeliebter eigener Politiker bereits erfolgreich verdrängt.

Kommentare wie jener von Misik stehen mit ihren Appellen an die pure Emotion, ihrer Vereinfachung und ihrem dünkelhaften Anspruch, im Besitz "der Wahrheit" zu sein, jener trüben Geisteshaltung um nichts nach, die sie zu kritisieren vorgeben. Es gibt nicht den geringsten Versuch, Motive zu ergründen oder sich mit der zunehmenden Popularität des social conservatism auch nur ansatzweise intellektuell auseinanderzusetzen. Die Holzhammer-These vom "Stupid White Man" muss genügen. Muss sie?

Komplexer als es aussieht

Natürlich sind traditionelle Moralvostellungen, Religion und Patriotismus wichtige Bestandteile des amerikanischen politischen Diskurses. Doch die Sache ist komplexer als sie aussieht.

Beispielsweise wurde im tief republikanischen Nevada just in dieser Wahl per Volksentscheid erstmals die Prostitution legalisiert. In Kalifornien entschieden sich die Wähler für die staatlich geförderte Stammzellenforschung. In anderen Staaten waren verschiedene Marihuanainitiativen erfolgreich.

Auch sind die Republikaner nicht gegen alle Arten von Homo-Ehe (auch hier irrt Misik), sondern es geht speziell um "Marriages", also traditionelle, kirchlich gestiftete Ehen. Selbst Präsident Bush befürwortete vor der Wahl ausdrücklich Civil Unions (gesetzlich anerkannte eheähnliche Partnerschaften für Homosexuelle) – etwas, das im vorgeblich so progressiven Österreich in diesem Sommer gerade einmal andiskutiert wurde.

Amerika verstehen

Generell ist die US-Gesellschaft zur Zeit extrem gegensätzlichen und komplexen Veränderungen ausgesetzt. Beinahe jeder vierte Amerikaner ist im Ausland geboren und für etwa 40 Millionen gilt Spanisch als Muttersprache. In keinem anderen großen Land der Erde prallen derartige kulturelle Gegensätze und so unterschiedliche Lebenskonzeptionen dermaßen heftig aufeinander und müssen so viele Einwanderer und deren Kulturen integriert werden wie in den USA.

Zugleich haben in weiten Bereichen der Gesellschaft Minderheiten, Frauen und Homosexuelle innerhalb kurzer Zeit enorme Fortschritte gemacht und genießen Möglichkeiten und Anerkennung weit jenseits dessen, was in vielen europäischen Ländern möglich sei.

Betonung konservativer Wertmuster

Auf diese allgemein als nationales Auseinanderdriften empfundene Entwicklung reagiert ein großer, auf Stabilität zentrierter Wählerblock mit einer zunehmenden Betonung konservativer Wertmuster. Während es im säkularen Europa noch die starken kulturellen Klammern gibt, bilden Religion und Patriotismus oft die einzigen verbleibenden Bindeglieder.

Populistische Demokratie

Dazu kommt: Die USA sind seit jeher eine extrem populistische Demokratie, wo man außerhalb intellektueller und europhiler Kreise einer von Eliten und Experten bestimmen Politik des Interessentausches und der ausgewogenen Paketlösungen wenig abgewinnen kann. Diese am Volksempfinden orientierte Politik führt zwar einerseits zu Scheußlichkeiten wie der Todesstrafe, birgt jedoch auch immer die Chance auf Innovation, grundlegende Veränderung und emotionelles Engagement.

Erfolge der letzten Jahrzehnte

Gewiss hätte sich auch der Verfasser dieser Zeilen einen anderen Präsidenten gewünscht. Eine Konstante der US-Realität ist aber einfach nicht wegzudiskutieren: Das in Europa so oft als dumm verachtete amerikanische Wahlvolk votierte stets für eine Politik, die den USA seit 50 Jahren Supermacht-Status sowie die dynamischste Wirtschaft aller großen Nationen beschert hat. Währenddessen plagt das europäische Modell seit geraumer Zeit der große Katzenjammer.

Europäische Dynamik statt Bushphobien

Was lernen wir daraus? – Statt sich weiterhin in Bushphobien zu ergehen, wunschzudenken und auf einen "europäischeren" US-Präsidenten zu hoffen, sollte Europa lieber danach trachten, selbst mehr Dynamik, Geschlossenheit und politische Initiative zu entwickeln. – Vorausgesetzt, es will ernst genommen werden und sich tatsächlich als attraktive und gewichtige Alternative zum amerikanischen Koloss behaupten. (DER STANDARD, Printausgabe 13./14.11.2004)