Schritt um Schritt am Zaun der Längsseite des Konzentrationslagers Majdanek entlang. Jeder Schritt wird mitgezählt und mit einer Mini-DV-Kamera dokumentiert. Am Ende werden es hunderte sein: In der Mitte, die Einstellung dauert bereits mehrere Minuten, geht dem Filmemacher der Akku aus; Passanten schreiten vorbei, werden kurz angesprochen ("Sind Sie aus Deutschland?"); Schwenks deuten das weitere Umfeld an, situieren das Lager in einer konkreten Topografie.

Romuald Karmakars Land der Vernichtung ist ein filmischer Forschungsbericht. Im Zuge von Recherchen für ein Spielfilmprojekt fuhr der Regisseur in das einst von Deutschen besetzte Gebiet Polens, um nach den Spuren eines NS-Polizeibataillons zu suchen, das an der Ermordung von fast zwei Millionen Juden beteiligt war. Das Material war ursprünglich nicht für die Veröffentlichung bestimmt.

Es vermittelt, sehr direkt, die hartnäckige Annäherung eines Menschen an ein nicht darstellbares Verbrechen. Fakten werden gesammelt, Erfahrungsberichte eingeholt, vor allem aber Räume abgemessen. Geschichte muss hier freigelegt werden, weil die Erinnerungskultur nicht sehr ausgeprägt ist. Karmakars Ansatz geht von der Gegenwart aus, er fragt genauso nach Vergangenem wie nach den Bedingungen des Weiterlebens.

Auf der Duisburger Filmwoche provozierte Land der Vernichtung heftige Kontroversen. Man warf Karmakar vor, unlautere Mittel anzuwenden, wenn er Recherchen veröffentlicht, die andere Aussagen provozieren würden als ein "richtiger" Dreh. Dabei liegt genau darin der Reichtum: Beispielsweise werden in Interviews, die von Missverständnissen gekennzeichnet sind, Antworten gefunden, die gar nicht erfragt wurden. Eine kontrolliertere Repräsentation ("der richtige Dreh") hätte das sicher verhindert.

"Material" lautete dieses Jahr der Schwerpunkt in Duisburg, Potenzial wie Beschränkungen der überwiegend digitalen Bilder standen zur Debatte. Land der Vernichtung zeigte auf phänomenologischer Ebene neue Möglichkeiten, während andere Filme die Möglichkeit, komplexe Zusammenhänge abzubilden, durch ihre Form infrage stellten. Hat Wolff von Amerongen Konkursdelikte begangen?, die neue Arbeit des Österreichers Gerhard Friedl (Knittelfeld - Stadt ohne Geschichte), war die avancierteste davon und wurde mit dem Arte-Preis sowie mit dem Goethe-Preis ausgezeichnet.

Eine sonore Off-Stimme entspinnt eine Serie aus Berichten, formt private wie geschäftliche Machenschaften von Wirtschaftsmagnaten zu einer (nur scheinbar geordneten) Ansammlung von Katastrophen: Übernahmen, Hintergehungen, Steuerdelikte sind die Regel. Sichtbar wird davon jedoch nichts; die Bilder tasten in längeren Fahrten und Schwenks öffentliche Orte in europäischen Städten ab, Fabriksräume und -gelände oder auch Bankenfoyers.

Nicht erfahrbar

Ton und Bild bilden dennoch eine trügerische Einheit. Es finden sich Beziehungen, aber die Zeichen bleiben arbiträr: Sie sind von Friedl wie falsche Fährten gelegt, die zum Effekt der Anstrengungen des Betrachters werden, Signifikantes von Insignifikantem zu trennen. "Seine Erfahrbarkeit selbst ist sein Argument", schreibt er über seinen Film, eine aberwitzige Maschine der Täuschungen, die allenfalls im Politischen zur Beliebigkeit neigt.

Mit der symbolischen Referenzialität von Bildern beschäftigt sich auch Hito Steyerls November, obwohl er mit dem Tod ihrer Freundin Andrea Wolf um ein privates Thema kreist. Der aus der Popkultur entlehnte Gestus der Martial-Arts-Kämpferin - ein frühes Rollenmodell für beide, das sie auch in einem gemeinsamen Trash-Film umsetzten - kehrt darin in Wolfs späterer Wandlung zur PKK-Aktivistin wieder: auf einem Plakat als verehrte Revolutionärin. Die Umwandlung von fiktiven zu faktischen Bildern - die dann wiederum fiktionalisiert werden - ist Thema von November: die Eigendynamik solcher Bildtransfers also, in denen die individuelle Haltung zu verschwinden droht.

Thomas Heises Der Ausländer geht von VHS-Aufnahmen aus dem Jahr 1987 aus, Archivbilder, die Heiner Müller zeigen, bei der Arbeit an einer Inszenierung, in seiner Wohnung, unter Freunden, beim Gespräch. Das Material ist äußerst schmierig, porös; auf den Bildern hat sich die Zeit eingeritzt und neue Bedeutungen hinterlassen. Wenn Müller davon spricht, dass er sein erstes Stück Der Lohndrücker heute mit anderen Augen liest, dann gilt das auch für diesen Film, in dem es Bilder gibt, die nachwirken: von einem nicht mehr existenten Land, von einem Dichter und Mitstreitern.

Verschwunden ist auch der Schäfer aus Josie Rückers Kurzfilm Wilhelm, der Schäfer, der den Förderpreis erhielt. Weil Wilhelm vor dem Dreh verstarb, kann sie nur aus dem Off von ihm erzählen. Die Bilder halten seine Welt fest: die Schafe, die Wollspinnerei, die Wiesen, die Wälder. Hier will ein Film mit sinnlichen Eindrücken dem Vergessen zuvorkommen. (DER STANDARD, printausgabe vom 15.11.2004)