So sieht das also aus, wenn einer aus Bayreuth zurückkehrt. Christoph Schlingensief hat dort im Sommer einen Parsifal inszeniert. Skandalös hat er sich dabei nicht benommen, nur sein Tenor wurde ein wenig ausfällig. Nun arbeitet er wieder dort, von wo er auszog, um die Wagnerianer das Sehen zu lehren: in Berlin, an der Volksbühne. Bei dem Abend Kunst & Gemüse. A. Hipler fungiert Schlingensief offiziell als Produzent. Regie führt Hosea Dzingirai, ein Mann aus Simbabwe, der mit zwei Assistentinnen die ganze Zeit selbst auf der Bühne ist.

Kunst & Gemüse ist also eine Probe, doch auf welches Exempel? Inmitten der Zuschauer liegt den ganzen Abend über eine Frau, die durch eine Krankheit zur Bewegungsunfähigkeit verurteilt ist. Sie kommuniziert via Computer, ihre Sprache ist eine Schrift. Die Krankheit heißt Amyotrophe Lateralsklerose, abgekürzt ALS. Sie ist unheilbar.

Auf verwegene Weise nimmt Schlingensief das Syndrom wörtlich: Er erkennt die Silbe "als" als das an, was sie ist - eine zentrale Chiffre der Moderne, in der nicht nur ein Urinoir als Kunstwerk, sondern nahezu alles als etwas anderes erscheinen kann. Die Moderne hat uns an so viele schrecklich-schöne Ersatzhandlungen gewöhnt (Kapitalismus als Gesellschaftsform, Krieg als Kunstwerk, Theorie als Praxis), dass Schlingensief seine eigene Tätigkeit nur noch als Pathologie erlebt: Theater als Krankheit.

Aus Bayreuth hat er ein Interesse an der Oper mitgebracht, das ihn nicht einfach bei Wagner stehen bleiben, sondern in die Moderne weiterforschen lässt. In Berlin kommt kein Ersatz-Parsifal zur Aufführung, sondern ein Rumpf-Schönberg: Der Einakter Von heute auf morgen, von dem es nicht zufällig auch eine Verfilmung von Jean-Marie Straub und Danièle Huillet gibt, wird gesungen.

Um dieses Opernereignis (und um die Patientin) herum veranstaltet Schlingensief eine typische Menschenmaterialaktion, wie er sie selbst erfunden und erst kürzlich bei seiner Entdeckung des Wiener Aktionismus historisch bestätigt bekommen hat. Der Kunstbetrieb arbeitet längst nicht mehr linear, sondern ist ein Mahlstrom, und Schlingensief sieht sich in dessen Zentrum.

Dort rudert er nach Kräften weiter. Kunst & Gemüse hat als Hauptdarsteller die beiden Opernfachkräfte, vier Musiker sowie zwölf Figuren, die zwölf Noten aus der Zwölftonmusik spielen. Eine dieser Figuren ist zugleich Johannes Heesters, dessen 100. Geburtstag mit gravitätischer Senilität begangen wird. Eine andere dieser Figuren ist ein Mann mit geringer Selbstdistanz, der durch die Inszenierung tappt wie ein Patient, also wie ein Symptom des Theaters, in dem nicht mehr gespielt wird.

Kunst & Gemüse ist auch eine Fortsetzung des Work-in-Progress Atta Atta, sie steht deswegen immer noch im Zeichen der beiden New Yorker Türme, und eine kleine Episode spielt in Kabul, wo Jean-Luc Godard eine Matthäuspassion inszenieren soll, die aber an Produktionsproblemen scheitert. Die chaotische Weltlage ordnet sich auf der Bühne zu einer überzeugenden Choreografie des Durcheinanders.

Schlingensief würde hinter sein eigenes Niveau zurückfallen, wenn nicht ständig alles möglich wäre. In der gespielten Realität ist Kunst & Gemüse eine sehr genaue Abbildung verschiedener Systeme von Öffentlichkeit aufeinander. Das Theater ist nicht länger die bürgerliche Königsdisziplin, und die Oper hat sich in die Moderne nur um den Preis ihrer Exotisierung retten können.

Deswegen macht Schlingensief das Medientheater, mit dem die Auftraggeber in Bayreuth nicht froh wurden. In Berlin wird, nur leicht verschlüsselt, ein Brief verlesen, in dem die Verantwortung für "Wiederaufnahmeproben" einer "ersten Assistentin" übertragen wird.

Schlingensief ist dort wohl wieder aus dem Spiel. In Berlin ist er so konzentriert und gut aufgelegt wie schon lange nicht: Kunst & Gemüse. A. Hipler ist eine Apokalypse, die moderner ist als jenes Theater, das sich Abend für Abend selbst gesundbetet. (DER STANDARD, Print-Ausgabe, 19.11.2004)