Früher einmal war Amsterdam die Verkörperung der niederländischen Toleranz: die stolze Hauptstadt eines Landes, das sich selbst als ein Symbol der Offenheit betrachtete. Und nun lag da ein Leichnam mit einem Schlachtermesser unter einem weißen Laken auf der Straße . . .

Dieser erneute Akt des Terrors bringt alles aus dem Lot, nagt an unserem Selbstvertrauen und lässt immer weniger von dem Bild übrig, das wir einmal von uns selbst hatten, vom Bild einer spannungsfreien und toleranten Gesellschaft. Begriffe wie Vielfalt, Respekt und Dialog verblassen vor dem dunklen Hintergrund dieses Ritualmords.

Natürlich gibt es keine kollektive Schuld der Muslime; wohl aber eine besondere Verantwortung. Seit dem Tag, an dem Theo van Gogh ermordet wurde, können die Muslime sich dieser Verantwortung nicht mehr entziehen.

Oft ist bei Emigranten von doppelten Loyalitäten die Rede, in Wirklichkeit aber gibt es nur halbe oder gar keine Loyalität. Nur allzu oft denken die Menschen: Ich will von den Rechten mehrerer Gesellschaften profitieren, fühle mich aber keinem Land wirklich verpflichtet; ich gehöre überall dazu und damit eigentlich nirgends. Freiheit aber kann man nicht ohne ein Gefühl von Verpflichtung leben.

Es muss daher viel mehr diskutiert werden, gerade auch von den Muslimen, die hier leben. Ihr Schweigen hat in hohem Maße zur Bildung von Vorurteilen beigetragen. Denn wie sollten Außenstehende zwischen liberalen, konservativen und fundamentalistischen Muslimen unterscheiden können, wenn niemand bereit ist, sich von der Gewalt zu distanzieren, die Tag für Tag an vielen Orten der Welt - und jetzt auch bei uns - im Namen des Islam begangen wird? Das achselzuckende "Was haben wir denn damit zu tun?" ist unmöglich geworden. Die Zeit, in der man sagen konnte "Das sind keine wirklichen Muslime, sie missbrauchen den Glauben, gehören ihm aber nicht an", ist endgültig vorbei.

Chance . . .

Ob sich politische Gewalt lohnt, hängt sehr davon ab, in welcher Weise man darauf reagiert. Insofern kann die Ermordung Theo van Goghs auch zu einem Wendepunkt werden, einer Wendung zum Guten. Wir müssen mit aller Kraft versuchen, aus dieser Not eine Tugend zu machen. Gemeinschaften erwachsen aus gemeinsamen Erfahrungen, aus einem gemeinsamen Schicksal wie dieser bestürzende Mord am helllichten Tag. Alle Gespräche, die wir nun führen, können zu einem neuen "wir" beitragen, einem wir, dass all diejenigen umfasst, die sich, ungeachtet ihrer Herkunft, mit diesem Land verbunden fühlen, die bereit sind, die Prinzipien einer offenen Gesellschaft zu verteidigen, und die eine kritische Loyalität als Bürger praktizieren wollen, die sich für das verantwortlich fühlen, was hier geschieht.

Wir dürfen unser Land nicht so aus der Hand geben, wie wir bereits jetzt manche Stadtviertel verloren haben, die sich in der Hand der Gewalt befinden. Dies erfordert größere Anstrengungen, als viele gedacht haben.

Es gibt nämlich keine Garantie dafür, dass der gesellschaftliche Friede jetzt, wo so viele verschiedene Menschen auf einem so kleinen Gebiet zusammenleben, dauerhaft gesichert werden kann. Die Segregation nimmt in den großen Städten vorläufig weiter zu, und dies ist eine sehr schlechte Nachricht.

Darum funktionieren die Beschwörungen von Vielfalt und Dialog, Respekt und Anständigkeit nicht mehr. Toleranz kann nur innerhalb klar definierter Grenzen existieren: Ohne gemeinsame Rechtsnormen können wir nicht auf produktive Weise unterschiedlicher Meinung sein. Darum heißt "den Laden zusammenhalten" in erster Linie: in Anbetracht des Extremismus nicht nachgeben, nicht vor dem kleinen Terror auf der Straße und dem großen politischen Terror zurückweichen, nicht länger an einer Kultur des Duldens festhalten, die sich als ein Synonym für das Recht des Stärkeren erwiesen hat. Die selbst erklärte Ohnmacht der Politik, die sich außerstande sieht, die öffentliche Ordnung aufrecht zu erhalten, bedroht die Toleranz am stärksten.

Niemand wünscht sich einen Polizeistaat. Im Gegenteil: Alle wünschen, dass das Recht auf freie Meinungsäußerung, und damit auch das Recht auf freie Religionsausübung erhalten bleibt. Es gibt nur eine Grundregel, und die haben wir in unserem Land systematisch vernachlässigt. Wer das Recht auf freie Religionsausübung in Anspruch nehmen will, der muss die Verpflichtung akzeptieren, diese Freiheit auch für andere zu verteidigen, egal ob das nun Andersgläubige, Häretiker oder Ungläubige sind.

. . . für ein neues "Wir"

Wenn die Moschee ein Ort ist, an dem Hass gegen alles und jeden gepredigt wird, der nicht dem Islam angehört, dann gerät dieses Recht auf freie Meinungsäußerung in Gefahr. Dem steht gegenüber, dass Kritik an Religion nie mit der Trennung von Staat und Kirche verwechselt werden darf. Jeder hat das Recht, Religion an und für sich als ein ungerechtes und autoritäres System, das Menschen unterdrückt, abzulehnen. Aber der prinzipielle Konflikt zwischen Atheismus und Gläubigkeit ist etwas vollkommen anderes als die Diskussion über die Stellung, die Religion in unserer Gesellschaft einnimmt.

Die Trennung zwischen Staat und Kirche bedeutet ja gerade, dass man dem Glauben dauerhaft Raum gewähren möchte.

Die Debatte über den Islam kann nur dann zu einem akzeptablen Ergebnis führen, wenn sie im Recht auf freie Religionsausübung verankert ist. Eine Gesellschaft, die sich selbst nicht zu einem religiösen Pluralismus verpflichtet, der auch den Islam mit einschließt, wird die Muslime immer von sich entfremden. Die Muslime ihrerseits aber müssen sich von einem Islam als zwingend vorgeschriebenem Rechtssystem, von einem Islam als Mehrheitsreligion distanzieren.

Was wir in Europa erleben, ist einmalig in der Geschichte des Islam: Niemals zuvor haben sich so viele Muslime als Minderheit dauerhaft in einem säkularen Staat niedergelassen. Das erfordert eine tief gehende Reform einer Religion, die Zwang auferlegen will und den öffentlichen Raum okkupiert, zu einer Religion, die sich an das individuelle Gewissen des einzelnen Gläubigen richtet. Das ist eine Religion, die sich selbst mit Worten und nicht mit Terror verteidigt. Heilige Bücher stehen nicht über oder außerhalb der Demokratie, sondern müssen Gegenstand der Kritik, des Spotts und der Interpretation sein können. Egal, welchen Hintergrund sie haben, Muslime müssen lernen, damit zu leben. (DER STANDARD, Printausgabe, 20./21.11.2004)