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Kulturen zwingen ihren Mitgliedern klare Vorstellungen darüber auf, wer sie sind, wie sie entstanden sind und wo ihr Platz in der Gesellschaft ist. So glaubte man im Europa der Vormoderne, dass eine Frau, die vor der Ehe Sex hat, möglicherweise den Abdruck ihres Liebhabers in sich trägt, sodass ihr eheliches Kind dem früheren Sexpartner und nicht dem Gatten ähneln würde. Derart ließ sich der Wert der Unberührtheit der Frau rechtfertigen.

Im Volk verbreitete Vorstellungen über Vererbung sind ein sehr kraftvolles kulturelles Instrument. Noch heute. Laut Studien zur Abstammung des Homo sapiens ist eine menschliche DNA-Sequenz mit dem vergleichbaren Erbgutabschnitt eines Schimpansen fast ident. Daraus wird oft der Schluss gezogen, dass Menschen nichts als Schimpansen sind oder dass Menschenaffen Menschenrechte zustehen.

Dass die Ähnlichkeit zwischen der DNA von Menschen und Schimpansen verblüfft, ist ein Produkt zweier kultureller Tatsachen: unserer Vertrautheit mit dem Körper des Schimpansen und unserem Nichtvertrautsein mit DNA. Als der Schimpanse selbst neu und interessant war, im 17. Jahrhundert, befanden ihn Wissenschafter der menschlichen Gestalt als so überwältigend ähnlich, dass er als Variante des Menschen klassifiziert wurde.

Der heute mögliche molekularbiologische Vergleich linearer Polymere (Proteine aus Aminosäureketten und DNA aus Nukleotidketten) eröffnet die Chance, die Evolution simplifiziert und tabellarisch zu beschreiben.

Ein solcher Vergleich zwischen Mensch und Schimpanse zeigt tatsächlich, dass fast 99 Prozent der vergleichbaren Gensequenzen übereinstimmen. Er lässt jedoch das Wissen über die Genom-Evolution außen vor: Mutationen sind viel komplexer als gedacht, das Verrutschen von Strängen, illegitime Rekombination und Transposition führen zu qualitativen Unterschieden zwischen eng verwandten Genomen.

Außerdem: Was sagt eine genetische Ähnlichkeit von nahezu 99 Prozent aus? Jedenfalls nichts über den Größenunterschied der Genome und auch nichts über Unterschiede in der Chromosomen- und Genomstruktur. Gene, die zur Bildung etwa des Oberschenkelknochens von Menschen und Schimpansen führen, mögen zwar fast identisch sein, was aber ist mit den Knochen selbst?

Auch fehlt dem DNA-Vergleich ein biologischer Kontext. Er zeigt keinen Zusammenhang zwischen errechnetem Wert der genetischen Ähnlichkeit von Menschen und Affen und dem sonstigen Leben. Ob der Tatsache, dass DNA eine Sequenz aus nur vier Basen ist, müssen zwei durch Zufall generierte Sequenzen immer zu 25 Prozent identisch sein. Deshalb muss alles mehrzellige Leben, das sich vermutlich aus einer einzigen gemeinsamen Urform entwickelt hat, in seinen Sequenzen zu mehr als 25 Prozent identisch, also verwandt sein: Auch Mensch und Karotte haben genetisch gesehen viel gemeinsam.

Keine Innenansicht

Wir sehen: Genetische Vergleiche bieten keine Innenansicht der Beziehungen zwischen Arten. Also ist diese offenbare Tatsache der Natur – die überwältigende Ähnlichkeit von Mensch und Affe – eine durch Kultur konstruierte Tatsache. Wir begreifen die Welt und unseren Platz darin nur kulturell. Die Wissenschaft liefert zusätzliche Informationen, um diesen Platz zu konstruieren. Doch wie bei anderen Völkern auch, ist unsere eigene Anwendung dieser Information auf das Puzzle unserer Existenz stark von unseren nicht wissenschaftlichen Vorstellungen beeinflusst, unseren Volksideologien über die Vererbung. (Jonathan Marks/DER STANDARD, Print-Ausgabe, 20./21. 11. 2004)