Wenn es um die Suche nach den Ursachen von Nationalismus geht, konzentriert sich die historische Forschung üblicherweise auf die großen politischen Zusammenhänge. Am Institut für Südosteuropäische Geschichte der Uni Graz gehen die Historiker einen anderen Weg: Indem sie kulturanthropologische mit historischen Methoden verknüpfen, dringen sie tief in die Alltagswelt der Menschen ein, in ihr Familienleben, ihre persönlichen Auf- und Abstiegsgeschichten, um auch dort mögliche Ursachen für politische Konflikte aufzuspüren.

So versuchen die Grazer Forscher unter Leitung des Südosteuropaexperten Karl Kaser etwa in einem vom Wissenschaftsfonds geförderten Projekt den Zusammenhängen zwischen Familienstruktur und Nation anhand makedonischer Fallstudien auf die Spur zu kommen. Zwar gab es nach dem Zerfall des sozialistischen Jugoslawien im mehrheitlich von orthodoxen Christen bewohnten Makedonien aufgrund der Regierungsbeteiligung der albanisch-muslimischen Minderheit keinen Bürgerkrieg, doch entspannt ist das Verhältnis zwischen den ethnischen Gruppen keinesfalls.

"Makedonier und Albaner kommunizieren heute im Alltag kaum noch miteinander, sie leben vielfach in getrennten Lebenswelten", sagt der Historiker und Projektmitarbeiter Robert Pichler (siehe Geistesblitz) nach etlichen Monaten Feldforschung in Makedonien. "Unsere Überlegung ist, dass sich hinter diesen politischen Spannungen auch starke kulturelle Konflikte manifestieren, dass also die nationalistischen Diskurse auch auf der politischen Mikroebene beobachtet werden können."

Um die kulturellen Unterschiede zwischen den Ethnien zu erforschen, wurden zwei makedonische Dörfer, für die der mittlerweile emeritierte US-Kulturanthropologe Joel Halpern bereits seit den 1950er-Jahren Datenmaterial zusammengetragen hatte, unter die Lupe genommen: das von orthodoxen Makedonieren und Torbeschen (Muslime slawischer Abstammung) bewohnte Labunishte sowie der ausschließlich von muslimischen Albanern besiedelte Ort Veleshta.

Aus dem Halpern'schen Datenmaterial geht unter anderem hervor, dass noch in den 1960er-Jahren viel mehr Muslime in komplexen Haushalten mit mehreren Kernfamilien zusammenlebten als orthodoxe Makedonier. Außerdem heirateten die Muslime früher, hatten mehr Kinder und bewirkten damit ein rasches Wachstum ihrer beiden Bevölkerungsgruppen. Im Gegensatz dazu schrumpfte die Zahl der orthodoxen Makedonier in den Dörfern vor allem infolge ihrer Abwanderung in die Städte. Diese demografische Entwicklung ist nach wie vor ein politisch extrem heißes Thema, da sich die Größe einer Volksgruppe auf ihre politischen Rechte auswirkt.

Hinsichtlich der Berufswahl zeigte sich, dass ein sehr großer Teil der muslimischen Männer in der Landwirtschaft oder am Bau beschäftigt war, während die orthodoxe Bevölkerung bereits in den 60er-Jahren viele unterschiedliche Berufe, auch solche mit höheren Bildungsvoraussetzungen, ausübte. Entsprechend höher war auch die Alphabetisierungsrate bei den orthodoxen Christen: So konnten 77 Prozent der Männer (Frauen: 72 Prozent) lesen und schreiben, bei den Torbeschen waren es immerhin 62 Prozent (Frauen: 45 Prozent), bei den Albanern nur noch 49 Prozent (Frauen: 30).

Obwohl mittlerweile - abgesehen von den alten Menschen - eine durchgehende Alphabetisierung gegeben ist, haben sich die Forscher, ausgehend von Halperns Daten, die Frage nach den Ursachen der damals erfassten kulturellen Unterschiede zwischen den Volksgruppen gestellt. Ein zentraler Punkt bei der ethnisch-kulturellen Differenzierung, so fanden die Historiker heraus, war die massive Landflucht der orthodoxen Makedonier in den 50er- und 60er-Jahren. "Dahinter stand das Bemühen des sozialistischen Jugoslawien, zur Abgrenzung von Bulgarien und Griechenland eine eigene makedonische Nation zu etablieren", erklärt Robert Pichler. "Zu diesem Zweck mussten alle staatlichen Einrichtungen makedonisiert werden."

Aus diesem Grund gab es für die orthodoxen Makedonier beträchtlich mehr Anreize, in die Städte zu gehen, als für die muslimischen Albaner oder Torbeschen, die überdies mehr fruchtbares Land besaßen und dem neuen makedonischen Staat mit Misstrauen gegenüberstanden. Dazu kam, dass Letztere auch unter einem beträchtlichen Bildungsdefizit zu leiden hatten. Während die Bildungstradition der Orthodoxen bis ins 19. Jahrhundert reicht, hatten die Albaner bis 1945 keine Schulen. Die Torbeschen hatten immerhin bereits in der Zwischenkriegszeit eigene serbische Schulen, was sich auch in der im Vergleich zu den Albanern niedrigeren Analphabetenrate spiegelte.

"Ursprünglich", sagt Pichler, "waren die Familienstrukturen bei den drei untersuchten ethnischen Gruppen sehr ähnlich." Durch die Migration in die Städte setzte sich bei den Orthodoxen allerdings der Trend zur Kernfamilie und zu einer generell "moderneren" Lebensweise durch, während sich bei den in den Dörfern gebliebenen Muslimen komplexe Familienstrukturen bis in die 80er-Jahre erhielten. Die wirtschaftliche Not löste allerdings auch bei den Muslimen eine Migrationsbewegung aus: jene nach Westeuropa.

"Dadurch kommt es mittlerweile auch bei ihnen zu einer Auflösung der traditionellen Strukturen", fanden Pichler und seine beiden Forscherkolleginnen heraus. Die Leute haben mehr Geld und können sich getrennte Haushalte leisten oder bleiben überhaupt in ihren Gastländern. Dennoch ist der familiäre Zusammenhalt noch immer extrem stark, und es fließt viel Gastarbeitergeld in die Dörfer. Dieses wird in patriarchalischer Tradition vom Familienoberhaupt verwaltet und oft in riesige, großteils unbenutzte Mehrfamilienhäuser investiert.

Vor dem Hintergrund dieser ethnisch unterschiedlichen und zeitversetzten Migrationsbewegungen fand in den Dörfern ein ökonomischer Umkehrprozess statt: War die orthodoxe Bevölkerung im ehemaligen Jugoslawien auf der (materiellen) Gewinnerseite, ist sie heute weit gehend in Arbeitslosigkeit und Armut abgerutscht. "Die Muslime dagegen, die nur sehr schwach in den Staat integriert waren, sind heute dort, wo sie Arbeitsmigration betreiben, in einer viel besseren Situation. Sie sind wohlhabender und können besser mit der Globalisierung umgehen als die ehemalige Elite in diesem Land", beschreibt Pichler den konfliktträchtigen Rollentausch.

Ihre nach wie vor funktionierenden Großfamilienstrukturen beeinflussen zudem den nationalistischen Diskurs von den Gastländern aus: So ist die zweite Generation der albanischen Arbeitsmigranten - beeinflusst durch die politische Propaganda aus dem Kosovo - stark nationalistisch orientiert. "Von diesem zum Teil radikal nationalistischen Denken gelangt viel über die Familienschiene wieder in die Dörfer", fand der Historiker heraus. "Auch ein Gutteil der Gelder für die Aufrüstung der UCK kam von albanischen Migranten aus der Schweiz, Österreich und Deutschland." (Doris Griesser/DER STANDARD, Print-Ausgabe, 20./21. 11. 2004)