Das Wort "liberal", bislang höchst respektabel, ist seit Kurzem ins Zwielicht geraten. Die Niederländer, heißt es plötzlich, seien viel zu liberal. Der schreckliche Mord an dem Filmemacher Theo van Gogh durch einen Islamisten hätte gezeigt, wohin das führe.

Und im US-Wahlkampf war die ärgste Beschuldigung, die der siegreiche George W. Bush gegen seinen Kontrahenten ausstoßen konnte: "Er ist ein Liberaler". Dann tobte jedes Mal der ganze Saal. Bush hätte ebenso gut sagen können: Kerry ist ein Bolschewik. Wie liberal darf man eigentlich sein?

Nun weiß jeder, dass im US-amerikani- schen Sprachgebrauch "liberal" so viel bedeutet wie "links". Wer nicht bei jeder Gelegenheit den lieben Gott im Munde führt und es nicht gut findet, dass Millionen Landsleute keine Krankenversicherung haben, ist ein Liberaler. In Europa hält man sich lieber an die ursprüngliche Bedeutung des Wortes, die auf die englischen und schottischen Protestanten des 17. Jahrhunderts zurückgeht: freie Meinung, freier Handel. Dagegen haben sowohl die Konservativen etwas einzuwenden, die die allzu freie Meinung ein wenig bremsen wollen, als auch die Linken, denen allzu freies Wirtschaften ein Dorn im Auge ist.

Das jüngste Dilemma rund um die Liberalen betrifft freilich nicht die Wirtschaft, sondern die Religion. Polnische Kommentatoren sprachen kürzlich von einer Christenverfolgung durch die Liberalen in Europa, nachdem das Europäische Parlament den allzu linientreu katholischen Kommissar-Aspiranten Rocco Buttiglione zurückgewiesen hatte. Die angeblich so antidogmatischen Liberalen seien selbst dogmatisch, hieß es. Seit wann dürfe ein Politiker keine religiösen Überzeugungen mehr haben?

Und im Fall van Gogh fragen nun viele, ob eine freie Gesellschaft wirklich alles tolerieren soll. Auch den religiösen Fanatismus muslimischer Zuwanderer, die in ihren Moscheen den Dschihad verherrlichen? Oder auch an Blasphemie grenzende Kunstwerke, wie sie Theo van Gogh mit seinen Filmbildern von Koranversen auf dem nackten Popo einer Muslimfrau zum Verhängnis geworden waren? Heißt liberal sein, an gar nichts mehr zu glauben?

Nun, an Demokratie und Menschenrechte glauben ist nicht gar nichts. Vielen Menschen war dieser Glaube den Einsatz ihres Lebens wert. Und wenn es manche im Lichte der jüngsten Entwicklung mit der Angst zu tun bekommen, wenn sich irgendwo ein Politiker als religiös motiviert outet - ob Muslim, Jude oder Christ -, so gibt es dafür gute Gründe. Sie liegen nicht zuletzt in der Geschichte der europäischen Religionskriege. Wer überzeugt ist, dass der Wille Gottes seine Handlungen bestimmt, ist zu buchstäblich allem imstande. Regiert werden möchte man von solchen Leuten lieber nicht.

Der verstorbene Journalist und Autor Claus Gatterer sagte einmal auf eine Reporterfrage, ob er sich als Liberaler verstehe, er möge liberale Katholiken und liberale Kommunisten, aber liberal allein sei ihm zu wenig. Das heißt wohl, der schützende Mantel des Liberalen ist für jede legitime Überzeugung unerlässlich. Ohne Liberalismus keine Zivilisation. Wer nie zweifelt, wer sich immer im Recht wähnt, ist gemeingefährlich. Da ist die Barbarei nicht weit.

Ja, aber was, wenn die Toleranz missbraucht wird? Dieses Risiko gibt es immer, und das amerikanische Beispiel zeigt, dass Intoleranz auch nicht vor Angriffen schützt. Für Verbrechensbekämpfung ist die Polizei zuständig, und sie soll ihren Job kompetent und entschlossen ausführen. Für die Politik aber scheint mir: Jetzt nur nicht die Liberalität zur Schuldigen für alle Fehlentwicklungen erklären. Wir brauchen sie mehr denn je.