... Es steckt mehr als nur ein Hauch Heuchelei hinter der Überreaktion auf die Entwicklungen in Wien. Wie vorauszusehen war, gab es in Paris Petitionen, unterzeichnet von bekannten Schriftstellern und Künstlern, die stolz verkündeten, dass sie in Wien in Zukunft auf die Segnungen staatlicher Zuwendungen verzichten würden. Das Schaudern lief einem über den Rücken bei so viel risikoloser Erregung. ...

Nur wenige bemerkten, dass die öffentliche Erklärung, die der österreichische Bundespräsident Thomas Klestil die neue Regierung unterzeichnen ließ, einige interessante Punkte enthielt - z. B. die Übernahme der kollektiven Verantwortung Österreichs für die "monströsen Verbrechen des nationalsozialistischen Regimes". ...

Die Frage Vichy

Bis 1995, als Jacques Chirac ein ähnliches Statement über Vichy abgab, haben sich alle französischen Regierungen standhaft geweigert, jegliche Verantwortung für Verbrechen in der Vergangenheit zu übernehmen - im Speziellen Fran¸cois Mitterrand, 14 Jahre lang sozialistischer Präsident des Landes und Beamter im Vichy-Regime, hat das immer und immer wieder verweigert.

Genau derselbe Mitterrand hat auch das französische Wahlrecht verändert und dadurch den parlamentarischen Erfolg Jean-Marie Le Pens ermöglicht ... mit dem Ziel, die vorherrschenden konservativen Parteien Frankreichs zu spalten und damit zu schwächen.

...Wenn sich französische und andere Kommentatoren darin überbieten, Österreich als garstiges kleines Alpenland zu züchtigen, das an Gedächtnisschwund leidet und in dem nur uneinsichtige fremdenfeindliche Neonazis wohnen, vergessen sie manchmal, dass Österreich von der Ungarnkrise 1956 bis zu den Balkankriegen mehr Flüchtlinge aufgenommen und versorgt hat als die meisten jener westlichen Demokratien, die das Land heute ins Out stellen. Übrigens, es war kein österreichischer Bundeskanzler, der einen amerikanischen Präsidenten im Mai 1985 auf eine Tour von SS-Grabstätten führte. ...

...Trotz allem, wir befinden uns nicht im Jahr 1933. Die Freiheitliche Partei ist keine Nazi-Bewegung, und Haider ist nicht Hitler. Er ist nicht einmal Le Pen, ein Punkt, den er gerne herausstreicht - Haider zieht es vor, sich mit Tony Blair zu vergleichen, und zeichnet von sich das Bild des Modernisierers, des National-Populisten, der überzeugt ist von der liberalen, freien Marktwirtschaft.

Das mag unaufrichtig sein, aber nicht völlig absurd. Die Freiheitliche Partei hat in Österreich den höchsten Anteil bei Wählern unter 30 Jahren (und die FPÖ-Minister gehören zu den jüngsten, die je im Amt waren). In einem Land mit einem höheren Prokopfeinkommen als Deutschland oder Frankreich und der niedrigsten Jugendarbeitslosigkeit in Europa (6,6 Prozent der jungen Leute von 18 bis 25 Jahren haben keine Arbeit, bei einem europäischen Durchschnitt von 20 Prozent) ist Haider nicht das ungesunde Nebenprodukt einer Krise, sondern eines der Veränderung. Um das zu verstehen, muss man sich die höchst differenzierte Situation Österreichs vor Augen führen.

Zeitverschiebung

Seit 40 Jahren lebt Österreich in einer Art Zeitverschiebung. Lange Zeit war es abgeschirmt von seiner eigenen belasteten Vergangenheit und von den Veränderungen, die das restliche Europa völlig auf den Kopf gestellt haben. Seit dem Abzug der alliierten Truppen bis Mitte der 90er-Jahre war Österreich neutral und ungebunden. Erst dann trat es der EU bei, orientierte sich an der Nato und öffnete seine Grenzen und seine Wirtschaft. ... Der Rest von Westeuropa hatte vier Jahrzehnte Zeit zu lernen, wie seine Vergangenheit und die Veränderungen der Gegenwart zu sehen sind. Österreich holt auf.

... Wenn Haider von den "ehrbaren Männern" der Nazi-Truppen spricht, die an der Ostfront "ihre Pflicht getan" hätten, weisen wir das angeekelt zurück. Doch genauso sprach Konrad Adenauer 1946 über diese Männer; nichts, das Haider sagt - und ganz sicher nicht seine Gleichsetzung der Leiden der Juden mit jenen der deutschen Vertriebenen oder der Wehrmachtsangehörigen in Kriegsgefangenschaft -, wäre in öffentlichen Diskussionen über diese Themen in den 50er-Jahren in Deutschland ungewöhnlich gewesen. ...

... Aber Österreich wird durch den Umbruch der Nachkriegsordnung genauso verändert. Genau aus diesem Grund sollten westliche Kommentatoren dem Balken im eigenen Auge ebenso große Beachtung schenken, anstatt von der Erscheinung Jörg Haiders fasziniert zu sein. In den meisten Mitgliedsstaaten der EU stehen zwölf bis 18 Prozent der Wähler Einwanderern ablehnend gegenüber und hegen fremdenfeindliche Gefühle, was sich in Wählerstimmen für einen lokalen Haider niederschlagen würde, gäbe es einen solchen ...
Übersetzung: Lucia Schrampf