"Stärke, Durchhaltevermögen, Mut und glückliche Entscheidungen" hat Václav Havel, die Symbolfigur der Dissidenten im ehemals kommunistischen Osteuropa, der ukrainischen Opposition in einer Solidaritätsadresse gewünscht und damit nur gezeigt, welche historische Tragweite der Machtkampf in Kiew nun erhalten hat.

Recht Unglaubliches ist geschehen: 15 Jahre nach dem Zusammenbruch der kommunistischen Regime in Europa taucht das Gespenst von der Niederschlagung des "Prager Frühlings" wieder auf, ganz so, als ob es das Ende der Sowjetunion nicht gegeben hätte, keine freundschaftlichen G8-Gipfel mit dem russischen Präsidenten und keine Osterweiterung von Nato und EU. Die russischen Panzer, so die Schreckvision, rollen dieses Mal nicht auf den Wenzelsplatz, sondern in die Innenstadt von Kiew.

Der Machtkampf in der Ukraine nach den offensichtlich manipulierten Präsidentschaftswahlen vom vergangenen Sonntag ist eine europäische Frage und eine Frage über die Zukunft der amerikanisch-russischen Beziehungen. Denn hinter der massiven politischen - und schlimmstenfalls auch militärischen - Unterstützung des ukrainischen Präsidentschaftskandidaten Viktor Janukowitsch durch Moskau steht eine neue Roll-back-Strategie des russischen Staatschefs Wladimir Putin. Er will den stetig gewachsenen Einfluss von Nato und EU in Russlands unmittelbarer Nachbarschaft zurückdrängen und wieder Moskaus alte Vormachtstellung behaupten. Die Ukraine, Europas größter Flächenstaat, der Kaukasus und Zentralasien sind das Operationsfeld dieser potenziellen neuen Ost-West-Konfrontation.

Putins Roll-back, ein Neuaufguss der US-Doktrin der 50er-Jahre, als Außenminister John Foster Dulles das "Aufrollen" des kommunistischen Machtbereichs in Osteuropa und Fernost anordnete, hat sich zuletzt während dieses Sommers in der OSZE abgezeichnet. In einer gemeinsamen Erklärung von Russland und acht weiteren GUS-Staaten erhob Moskau schwere Vorwürfe gegen die Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa: Zu unausgewogen sei die Arbeit der Wiener Organisation, das "geografische und funktionale Ungleichgewicht offensichtlich", die Tätigkeit reduziert auf die Beobachtung von Wahlen und der Einhaltung von Menschenrechten, statt etwa auch die wirtschaftliche Entwicklung im Bereich der 55-Staaten-Organisation zu einem Thema zu machen.

Moskaus Vorstoß in der OSZE im vergangenen Juli hatte einen doppelten Zweck. Einmal ging es darum, die absehbare Kritik der OSZE an einer ganzen Reihe kommender Wahlen - im von Armenien besetzten Nagorny-Karabach, in Kasachstan, Tschetschenien, Weißrussland, schließlich in der Ukraine - gleich im Vorfeld zu attackieren. Zum anderen nutzt Putin die OSZE, um die GUS-Staaten in eine Koalition der mit Moskau Gleichgesinnten zu binden, die es in den vergangenen Jahren so nicht gab.

Die US-Regierung hat die Gefährlichkeit des Machtkampfs in der Ukraine erkannt und Ermittlungen zum möglichen Wahlbetrug verlangt. Auch der EU-Beauftragte für die gemeinsame Außenpolitik, Javier Solana, lehnte sich weit aus dem Fenster und machte klar, dass Brüssel keine "betrügerischen Wahlen" akzeptieren werde. Solana nahm damit einen Eklat beim EU-Russland-Gipfel am heutigen Donnerstag in Kauf.

Brüssel wie Washington stützen sich auf das Moskauer Grundsatzdokument der OSZE von 1991, das das Ende des Kalten Kriegs markierte und "kategorisch und unwiderruflich" erklärte, dass die "humanitäre Dimension" - darunter fallen auch demokratische Wahlen - von "direktem und legitimem Interesse aller Teilnehmerstaaten ist und nicht ausschließlich zu den inneren Angelegenheiten des betroffenen Staates gehört".

Zur Überprüfung der Wahl, einer Neuauszählung und unter Umständen einer Wiederholung der Wahlen in der Ukraine kann es keine Alternative geben. (Markus Bernath/DER STANDARD, Printausgabe, 25.11.2004)