I

Werdet endlich vernünftig", möchte man Israelis und Palästinensern zurufen: "Kinder, vertragt euch!" Aber das steht mir nicht zu, weil die Konfliktparteien keine unmündigen Kinder sind und ich nicht ihr Vater bin. Genauso paternalistisch aber reagieren viele Europäer auf den Nahostkonflikt und andere Kriege der Gegenwart, weil sie so denkfaul geworden sind, dass sie sich nicht mehr vorstellen können oder wollen, wie es ist, wenn Gewalt und Tod zum Alltag gehören, wo doch in Europa - angeblich - seit über 50 Jahren Frieden herrscht.

Ich selbst habe mich vom Schriftsteller zum Kriegsreporter verwandelt und seit Mitte der Neunzigerjahre zahlreiche Krisenherde und Kriegstheater - was für ein seltsames Wort! - aufgesucht und aus der Nähe kennen gelernt. Meine vorläufig letzte Reise, im Mai dieses Jahres, führte mich nach Darfur, Schauplatz eines angekündigten Völkermords, der trotz humanitärer Hilfsaktionen und hektischer Diplomatie ungebremst weitergeht.

Dabei habe ich Erfahrungen gemacht, die Autoren zu Hause am Schreibtisch nicht machen können, sondern nur, indem sie sich ein Stück weit von ihren Schreibtischen entfernen - zum Beispiel die Erfahrung, dass ich keine Angst hatte, als um mich herum tausende von Menschen starben in Ruanda, aber abends im Hotel beim Gedanken an das, was ich gesehen und erlebt hatte, in Ohnmacht fiel. So besehen war das, was ich tat, weniger journalistisch als literarisch motiviert, eine Fact-Finding-Mission im Auftrag der Medien und zugleich eine Art Selbstversuch: Ich wollte etwas herausfinden über mich selbst, was ich nicht schon vorher gewusst hatte.

Das Ganze hat aber, über das Persönliche hinaus, auch eine historische Dimension, die mir erst im Nachhinein klar geworden ist. Ich wurde 1944 geboren, und ich reiste in Kriegsgebiete auf der Suche nach einer Vergangenheit, die ich aus Erzählungen meiner Eltern und Großeltern kannte: Ich wollte wissen, was sie empfunden hatten in den Bombennächten des Zweiten Weltkriegs und wie ich selbst reagieren würde auf die Konfrontation mit Gewalt und Tod - nicht abstrakt, sondern ganz konkret.

In all den Jahren, während ich ständig auf Reisen war, habe ich, bewusst oder unbewusst, um den Nahen Osten einen großen Bogen gemacht. Der tiefere Grund für meine politische Abstinenz war, dass mir der Nahostkonflikt ausweglos und unlösbar erschien. Hinzu kam das unabweisbare Gefühl, dass ich als Deutscher keine neutrale Haltung einnehmen konnte, denn der von Hitler befohlene Judenmord war eine der Ursachen gewesen für den späteren Nahostkonflikt. Umso mehr bewunderte ich das diplomatische Geschick des deutschen Außenministers Joschka Fischer, dem die Quadratur des Kreises gelang, dass beide Seiten ihm Gehör schenkten bei dem wenig aussichtsreichen Versuch, Möglichkeiten für Kompromisse auszuloten. Aber ich bin kein Diplomat, sondern Schriftsteller, und ich habe das Privileg - man kann auch Narrenfreiheit dazu sagen - , mich nicht an das politisch Machbare halten zu müssen und das Wünschbare formulieren zu dürfen ...

II

Der schreckliche Völkermord in Ruanda, dem 1994 800.000 Tutsis und gemäßigte Hutus zum Opfer fielen, wird meist isoliert betrachtet, getrennt von seiner Vorgeschichte, die ihn überhaupt erst verständlich macht. Schon vor dem Ersten Weltkrieg, damals gehörte Ruanda zu Deutsch-Ostafrika, warnten Missionare vor einer Explosion der sozialen Unzufriedenheit, weil die Minderheit der Tutsi-Nomaden die Mehrheit der Hutu-Bauern in feudaler Knechtschaft hielt. Nach der Entlassung in die Unabhängigkeit gewannen die Hutus aufgrund ihrer nummerischen Überlegenheit jede demokratische Wahl, und das Wachstum der Bevölkerung vergrößerte den ökonomischen Druck, da immer weniger Land immer mehr Menschen ernähren musste.

Die Tutsi-Aristokratie verteidigte ihre Privilegien durch Morde und Massaker an so genannten Hutu-Evolués, die Missionsschulen oder Universitäten besucht hatten, und so kam eine Spirale von Gewalt und Gegengewalt in Gang, die, von der Außenwelt kaum beachtet, mehr und mehr Opfer forderte. Warum erzähle ich Ihnen das?

III

Ruanda ist heute ein straff geführter Militärstaat, dessen Tutsi-Regierung die Devise "Nie wieder!" von Israel übernommen hat: Gestützt auf eine schlagkräftige, disziplinierte Armee und den besten Geheimdienst Ostafrikas, hat Ruanda das Nachbarland Burundi sowie Teile Ugandas und der Kongorepublik unter seine Kontrolle gebracht. Paradoxerweise hat diese Politik die Sicherheit des Tutsi-Volks aber nicht gestärkt, sondern geschwächt. Aber das Beispiel Ruanda ist noch in anderer Hinsicht lehrreich: Ethnologen haben herausgefunden, dass Hutus und Tutsis, wie der Bauer Kain und der Nomade Abel, von gemeinsamen Eltern abstammen - sie sprechen ein und dieselbe Sprache und haben die gleiche, auf Ackerbau und Viehzucht beruhende Kultur. Ohne die Parallele überstrapazieren zu wollen, habe ich schon lange den Verdacht, dass Israelis und Palästinenser mehr miteinander gemein haben, als sie selbst wahrhaben wollen, weil sie, ähnlich wie die früheren Erbfeinde Deutschland und Frankreich,gemeinsame Ursprünge haben.

Aus dem bisher Gesagten geht, so hoffe ich, klar genug hervor, dass ich kein Freund der Politik der Stärke von George W. Bush und Ariel Sharon bin. Trotzdem habe ich dem Premierminister applaudiert, als er Israels Rückzug aus Gaza beschloss und den Extremisten in den Reihen seiner eigenen Partei die rote Karte zeigte. Selbst wenn es stimmen sollte, dass Sharon nur Zeit gewinnen will, um an anderer Stelle vollendete Tatsachen zu schaffen, ist dies trotzdem ein Schritt in die richtige Richtung: Nicht als Vorwegnahme einer künftigen Friedensregelung oder - bescheidener gesagt - eines Waffenstillstands, sondern weil das Votum der Knesset einem politischen Prinzip Geltung verschafft, das auch für die Palästinenser gilt: Dass die schweigende Mehrheit - in Europa sagen wir Zivilgesellschaft dazu - nicht länger bereit ist, sich von radikalen Minderheiten terrorisieren zu lassen, die sich über Recht und Gesetz hinwegsetzen unter Berufung auf eine angemaßte Autorität, die keiner Kontrolle unterliegt und beliebig manipulierbar ist.

Von hier ist es nicht mehr weit zu Selbstmordattentaten oder zur Ermordung demokratisch gewählter Politiker, und in ihrer Menschenverachtung stimmen die Extremisten beider Seiten spiegelbildlich miteinander überein. (DER STANDARD, Printausgabe, 25.11.2004)