Paris/Kopenhagen/Moskau/Rom/London/Zürich/Madrid - Die linksliberale französische Tageszeitung "Liberation" (Paris) meint am Donnerstag zu den Auseinandersetzungen nach der Präsidentenwahl in der Ukraine:

"Kann man noch auf ein Happy End in der Ukraine hoffen, auf einen Kompromiss also, der es den Übeltätern an der Macht erlaubt, ihr Gesicht (und ihre Interessen) zu wahren und gleichzeitig die demokratischen Erwartungen der Ukrainer zu befriedigen? Es ist möglich und wünschenswert, aber immer unwahrscheinlicher. Denn bei der 'orangenen Revolution' handelt es sich nicht um ein Kinoereignis. Die an der Macht sind entschlossen, dort auch zu verharren, und warten auf den geeigneten Augenblick, hinterrücks über den Gegner herzufallen. Und sie setzen dabei auf die russische Öffentlichkeit."

"Le Monde" (Paris): Will man ein Europa, das wie in der Zeit des Kalten Krieges in Einflusssphären eingeteilt ist?

"Über das Schicksal der Ukrainer hinaus geht es um die Organisation des gesamten europäischen Kontinents. Muss die Haltung der Europäer der Ukraine, Moldawien und den Ländern des Kaukasus gegenüber den Beziehungen mit Russland untergeordnet werden? Oder sollen die Beziehungen Europas mit Moskau davon abhängen, wie sich Russland den Ländern gegenüber verhält, die ihm früher zu Diensten waren?

Mit anderen Worten: Es geht um die Frage, ob man ein Europa will, das wie in der Zeit des Kalten Krieges in Einflusssphären aufgeteilt ist. Oder haben die Russen endlich verstanden, dass die Zeit der Unterordnung der Vergangenheit angehört und dass die paneuropäische Zusammenarbeit eine Unabhängigkeit und Gleichheit voraussetzt? Die Antwort auf diese Fragen wird in diesem Augenblick in Kiew gegeben."

"La Repubblica" (Rom): Bürgerkrieg kann jeden Augenblick hereinbrechen

"Seit Mittwochabend weiß man in der Ukraine, dass der Bürgerkrieg jeden Augenblick hereinbrechen kann. Von nun an genügt dazu nur noch ein Funke: Eine falsche Nachricht, eine kleine Prügelei, selbst nur eine Beleidigung. Verbitterung, Wut und Übermüdung sind derart gewachsen, dass die Opposition und die staatlichen Autoritäten nicht mehr in der Lage scheinen, die Situation unter Kontrolle zu halten. Die Menschen wissen das, und sie werden von einem Schrecken erschüttert, der sich mit Hass vermischt."

"Moskowski Komsomolez" (Moskau): Proteste gleichen erstaunlich der Situation in Moskau im August 1991

"Die Kiewer Proteste gleichen erstaunlich der Situation in Moskau im August 1991. Die gleichen verklärten Blicke auf den Gesichtern der Menschen, derselbe Drang der Seele, dasselbe Streben nach Reinheit, Licht und (...) derselbe Mangel an Logik und Unwillen, der Wahrheit ins Auge zu sehen. Die Menschen haben genug davon, mit Lügen zu leben, darum sind sie auf die Straße gegangen. Sie glauben wirklich, dass sie für die Demokratie kämpfen. Jetzt werden sie ausgenutzt. Später betrogen, so wie man die Moskauer betrogen hat, die das Weiße Haus verteidigt haben. Es wird zu Enttäuschung kommen und Befremden. Sie werden sagen: 'Wie kommt es, dass wir nicht gesehen haben, wen wir verteidigt haben?' Aber das kommt später. Wir brauchen ihnen heute nichts zu erklären. Jeder muss selber aus seinen Fehlern lernen."

"Komsomolskaja Prawda" (Moskau): Der Riss im Land wird noch lange sichtbar bleiben

"Egal, wer diese Wahlen gewinnt, ob Ju. oder Ja., eines ist klar: Die Ukraine ist wie ein Blatt Papier, das in zwei etwa gleich große Teile zerrissen worden ist. Diese wieder zusammenzukleben wird schwierig. Auch wenn es gelingt, wird der Riss noch lange sichtbar bleiben. Der Westen und der Südosten werden sich gegenseitig noch lange als potenzielle Feinde betrachten. Wird der neue Präsident mit Gewalt eingesetzt, bleibt denjenigen, die für ihn gestimmt haben, nur ein Ausweg: zu Partisanen zu werden."

"Information" (Kopenhagen): Lage ist nicht unkompliziert

"Zum Fundament für die EU gehört, dass Abweichungen vom System parlamentarischer Demokratien nicht toleriert werden. Nachdem die russischen Verbrechen in Tschetschenien Zorn innerhalb der Union erregt haben, müsste die EU nun auch das neoimperiale Verhalten von Russlands Präsident Wladimir Putin unmittelbar vor der Wahl in der Ukraine kritisieren. (...) Aber die Lage ist nicht unkompliziert. EU und USA sind Gefangene ihres geo- und realpolitischen Wunsches nach guten Beziehungen zu Russland, das nun eine Zeit lang die Rolle des treuen Alliierten im Kampf gegen den Terrorismus gespielt hat. (...) Aber die EU muss sich zusammenreißen und darf nicht die oft erbärmliche Rolle des Westens im Kalten Krieg wiederholen."

 "The Independent" (London): Drastische US-Intervention war höchst unglücklich

"Russland ist dummerweise schon zur Unzeit vorgeprescht, indem Präsident (Wladimir) Putin (dem Regierungschef Viktor) Janukowitsch auf der Grundlage zweifelhafter Hochrechnungen gratulierte. Das Weiße Haus war anfangs weiser - aber nur bis gestern. Binnen einer Stunde nach Bekanntgabe des offiziellen Ergebnisses erklärte der Außenminister (Colin Powell) vor laufenden Kameras, dass die USA das Ergebnis nicht akzeptieren könnten und dass es 'Konsequenzen' geben werde, falls es dabei bleiben sollte.

Diese drastische Intervention war höchst unglücklich, denn sie stand im Konflikt mit ersten Anzeichen einer friedlichen Lösung. Die Ukraine steht dichter denn je am Rande eines Bürgerkrieges. Das letzte, was sie nun braucht, ist, dass ihr ein Außenstehender einen Stoß in Richtung Abgrund versetzt."

"Tages-Anzeiger" (Zürich): EU murmelt unbestimmt von Unregelmäßigkeiten"

"Internationale Wahlbeobachter haben den Urnengang zwar klar als undemokratisch bezeichnet. Doch in den europäischen Hauptstädten will daraus niemand die Konsequenzen ziehen und einen solchermaßen 'gewählten' Präsidenten eines Nachbarlandes der EU einfach ablehnen. Statt Kiew klar zu machen, dass in Europa nie mehr Panzer gegen Demonstranten eingesetzt werden, wird unbestimmt von Unregelmäßigkeiten gemurmelt. Russland zieht derweil unverfroren in die andere Richtung. (...) Während die EU und Russland an diplomatischen Höflichkeitsformeln für ihr Gipfeltreffen von heute Donnerstag feilen, stehen in Kiew Hunderttausende in Schnee, Matsch und Kälte. Bürger, die für eine moderne, europäische Ukraine kämpfen."

"El Pais" (Madrid): Bedrohung für die Beziehungen zwischen der EU und Russland

"Die durch Wahlbetrug ausgelöste Krise in der Ukraine hat nicht nur in Kiew Spannungen ausgelöst. Sie hat längst die Landesgrenzen überschritten und ist zu einer direkten Bedrohung für die Beziehungen zwischen der EU und Russland geworden.

Zwei Auswege sind denkbar: Entweder es gibt eine unabhängige Überprüfung des Wahlergebnisses, oder die Wahl wird wiederholt. Die zweite Lösung wäre die bessere. Sie böte den Ukrainern einen Weg aus der Sackgasse, in die eine skrupellose Regierung sie hineingeführt hat."

"Il Messaggero" (Rom): Putin kann die Ukraine nicht aufgeben  

"Der russische Präsident Putin, der den Russen versprochen hat, dem verletzten Land seine verlorene Größe wiederzugeben, kann die Ukraine nicht aufgeben und ihrem Schicksal überlassen. Das hat er in diesen Tagen auch gegenüber seinen westlichen Gesprächspartnern bekräftigt, und sie dabei aufgefordert, ihre Nase nicht in die Wahlpraktiken in der Ukraine zu stecken. Weil, so gibt Putin zu verstehen, und dies tut er nicht zum ersten Mal, Russland freie Hand in denjenigen Regionen verlangt, die Moskau als sein eigenes Haus ansieht - im Austausch dafür, dass es sich aus der amerikanischen Politik heraushält. Ob es sich dabei um Tschetschenien handelt oder um die Ukraine."  (APA/dpa)