"Es ist nicht unser Recht, in welcher Art auch immer in den Wahlprozess einzugreifen oder unsere Meinung aufzudrängen." Mit diesen Worten warnte der russische Präsident Wladimir Putin beim EU- Russland-Gipfel vor Einmischung in die inneren Angelegenheiten der Ukraine. Derselbe Wladimir Putin hat vor den ukrainischen Wahlen mehrmals offen Partei für den Regierungskandidaten Viktor Janukowitsch ergriffen. Es gibt folglich nur zwei Erklärungen: Entweder ist Putin ein Zyniker, oder er glaubt, dass sich manche in die Angelegenheiten der Ukraine einmischen dürfen und manche nicht.

Der Tod der Sowjetunion vollziehe sich erst jetzt wirklich, sagt die ukrainische Schriftstellerin Oksana Zabuzhko. Sie hat Recht. Und das Verdienst daran kommt jenen hunderttausenden ukrainischen Bürgerinnen und Bürgern zu, die sich mit einem offenkundigen Wahlbetrug nicht abfinden wollen. Putin spürt die Brisanz dieses Ereignisses für Russland selbst. Gerade deshalb warnt er vor innerer Einmischung. Und nicht zufällig droht er der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE), deren Beobachter den Wahlbetrug bestätigen, mit "Bedeutungsverlust".

Die OSZE ist aus der KSZE, der Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa, hervorgegangen. Mit der 1975, noch tief im Kalten Krieg, in Helsinki unterzeichneten KSZE-Schlussakte, wurde in Angelegenheiten der Menschen- und Bürgerrechte das Prinzip der Nichteinmischung abgeschafft. Moskau stimmte deshalb zu, weil der Westen gleichzeitig die territoriale Unantastbarkeit des Ostblocks garantierte.

Der Irrtum der damaligen Kremlherren war fatal. Glasnost und Perestroika sind ohne Helsinki kaum vorstellbar. Sie haben letztlich zum Ende der Sowjetunion als Staat geführt. Aber nicht als Wille und Vorstellung, wie die neuen Hegemonietendenzen Moskaus zeigen.

In dieser Situation steht die Europäische Union vor ihrer bisher größten geopolitischen Bewährungsprobe. Sie muss jeden auch nur rhetorischen Rückfall in den Kalten Krieg vermeiden, aber auf den unverhandelbaren Werten bestehen, die eine dauerhafte europäische Friedensordnung begründen. Diese Rolle als "sanfte Großmacht" muss der EU umso leichter fallen, als sie ohnedies nicht über glaubwürdige Sanktionsmöglichkeiten gegen Russland verfügt.

Im Gegenteil: Russland könnte seinerseits die europäische Wirtschaft empfindlich stören, wenn es den Erdgashahn abdrehte. Dass die russische Volkswirtschaft ohne die Erlöse aus dem Gasexport ein riesiges Problem bekäme, unterstreicht die wechselseitige Abhängigkeit.

Europa und Russland sind aufeinander angewiesen. Dazwischen liegt die Ukraine, nicht nur geografisch. Historisch ist sie die Wiege der russischen Nation. Kulturell fühlt sich ein Großteil der Eliten nicht nur im Westen Europa zugehörig. Die Wirtschaft wird von Clanstrukturen beherrscht.

Auch die Galionsfiguren der Opposition, Viktor Juschtschenko und Julia Timoschenko, sind in diesem System groß geworden. Aber sie haben sich davon emanzipiert, aus welchen Gründen immer. Für sich genommen, sind schon die offiziellen 46,7 Prozent für Juschtschenko ein enormer Erfolg. Er wäre ohne die starken Ansätze einer Bürgergesellschaft, ohne das gesellschaftliche Engagement zehntausender, meist junger Menschen in unzähligen Nichtregierungsorganisationen (NGOs), kaum vorstellbar. Diese NGOs werden großteils von westlichen Institutionen finanziert, darunter die EU.

Die Investitionen haben sich bezahlt gemacht. Denn wie immer die Krise in der Ukraine ausgeht, danach wird auch für Moskau nichts mehr so sein, wie es war. Was die "sanfte Großmacht" EU jetzt tun kann: Putin & Co mit kluger, geduldiger Beziehungspflege klar machen, dass eine demokratische, prosperierende Ukraine letztlich auch zum Nutzen Russlands ist - und gleichzeitig nach ukrainischem Beispiel die russische Zivilgesellschaft fördern. (DER STANDARD, Printausgabe, 26.11.2004)