Der Russland-Experte Alexander Rahr von der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik kritisiert im STANDARD-Gespräch die Parteinahme der EU-Staaten und der Vereinigten Staaten für den ukrainischen Oppositionsführer Viktor Juschtschenko. "Die einseitige Unterstützung ist vorschnell, nicht überdacht und verhindert Lösungen. Denn das andere Lager muss in einen Kompromiss eingebunden werden. Die halbe Ukraine hat einen anderen Kandidaten gewählt."

Nach der Unterstützungserklärung von US-Außenminister Colin Powell seien die Chancen für eine Vermittlung endgültig vertan worden, meint der für Russland und die GUS-Staaten zuständige Programmdirektor. "Jetzt steht Juschtschenko als moralischer Sieger da aufgrund der vehementen Unterstützung des Westens." Dies sei strategisch nicht klug gewesen. "Janukowitsch wird einen Teufel tun, seine Macht ganz abzugeben, weil er weiß, dass viele Ukrainer für ihn gestimmt haben, auch wenn viele Stimmen gefälscht waren. Ob das dem Westen gefällt oder nicht."

Der deutsche Regierungsberater befürchtet eine Eskalation der Lage in der Ukraine. Er sieht nur einen Ausweg: Verhandlungen über die Machtverteilung. "Das Präsidentenamt auf eine eher repräsentative Funktion herunterstutzen und die Aufgaben der Verteidigung, der Wirtschafts-und Reformpolitik in die Hände Juschtschenkos legen. Damit könnten Janukowitsch und Juschtschenko leben. Dafür müssen sich aber auch der Westen und Russland von den sturen Positionen lösen."

Rahr kritisiert auch die bisherige Ukraine-Politik der EU. "Man hat dem Land nicht einmal eine langfristige Beitrittsperspektive geboten, die Ukraine nach Asien weggedrückt und damit in die Arme Russlands. Jetzt, wo Teile der Bevölkerung gegen das Oligarchenregime aufbegehren, erinnert sich plötzlich der Westen an die Ukraine."

Rahr befürchtet eine Konfrontation zwischen Russland und der EU. "Wir steuern mehr und mehr in einen kalten Frieden. Man hat eigentlich Frieden miteinander geschlossen und es gibt keine größeren Konfliktpotenziale. Aber die kleineren Konflikte können sich zu einem größeren entwickeln." (DER STANDARD, Printausgabe, 26.11.2004)