Kiew - In Kiew mehren sich die Anzeichen, dass zunehmend Repräsentanten des Machtapparates in das Lager der Opposition wechseln. Auf einer Kundgebung am Unabhängigkeitsplatz rief ein General des Inlandsgeheimdienstes SBU seine Kollegen auf, sich nicht länger gegen das Volk zu stellen.

Auch am Freitag versammelten sich auf dem Unabhängigkeitsplatz im Zentrum wieder mehr als hunderttausend Menschen. Reden sollten sie bei Laune halten und ihnen Mut machen. Immer wieder riefen die Demonstranten in Sprechchören den Namen des Oppositionsführers Viktor Juschtschenko. Und erreichten Teilerfolge: Viele Polizisten haben die Seite gewechselt, auch andere Vertreter der Staatsmacht schlugen sich auf die Seite der Opposition. Die Überläufer wurden von den Anhängern des pro-europäischen Oppositionskandidaten Viktor Juschtschenko bejubelt.

Zugleich begannen Oppositionsanhänger damit, die Regierungsgebäude abzuriegeln. Vor dem Amtssitz von Premier Viktor Janukowitsch errichteten sie mit Bussen eine Barrikade und hinderten den Regierungschef und seine Beamten am Betreten des Gebäudes.

Bergarbeiter in Kiew

Aber auch das Regierungslager blieb nicht untätig. Tausende Bergarbeiter sind in den letzten Tagen aus dem Osten des Landes nach Kiew gekommen. Sie demonstrieren für den offiziellen Wahlsieger Janukowitsch.

Der Sprecher der Opposition, Boris Tarasjuk, sprach wiederholt von einer Präsenz von rund 1000 Mann russischer Spezialeinheiten in der Ukraine. Er wisse genau, wo diese sich aufhielten.

Unterdessen wächst die Anzahl der Staatsbediensteten, die sich auf die Seite des Oppositionellen Juschtschenko stellen. Die Zahl der Mitarbeiter im Außenministerium, die eine entsprechende Erklärung unterschrieben, ist auf über 400 gewachsen.

Außerdem unterschrieben 40 Mitarbeiter der Kiewer Staatsanwaltschaft eine Erklärung, in der sie die Opposition bei ihren Protesten unterstützen. Darüber informierten Vertreter der Staatsanwaltschaft am heutigen Freitag im Oppositionssender "5. Kanal". Laut Agenturberichten aus Kiew wurden die Demonstranten am Freitag von einigen Dutzend Polizeikadetten verstärkt.

Bürgermeister, Stadtpolizei, Gewerkschaft

Zuvor hatten sich bereits andere wichtige Repräsentanten und Institutionen von der Staatsführung losgesagt: der Kiewer Bürgermeister Oleksandr Omeltschenko, die Kiewer Stadtpolizei, der Kiewer oberste Staatsanwalt. Dazu kamen gestern führende Mitglieder der Nationalbank und die mächtige Gewerkschaft.

Auch der Vize-Wirtschaftsminister Oleg Gajduk hatte seinen Rücktritt erklärt, weil er unter Janukowitsch keine Chance für eine Integration der Ukraine in die europäische Wirtschaft sehe. Eine Gruppe Journalisten des ukrainischen Staatsfernsehens kündigte an, ab sofort ausgewogen über die Ereignisse im Land zu berichten.

Militär und Polizei ausschlaggebend

Bei der Entscheidung des Streits um das Wahlergebnis wird es ausschlaggebend sein, ob es Juschtschenko gelingen wird, die "Machtministerien" auf seine Seite zu bringen. Dabei handelt es sich vor allem um Polizei und Militär, aber auch die Nachfolgeorganisation des gefürchteten Geheimdienstes KGB, der Sicherheitsdienst der Ukraine (SBU). Laut einem Spiegel-Bericht sind Donnerstagabend jedoch bereits Teile der KGB-Nachfolgeorganisation SBU ("Shzlusba Bespeki Ukrainj") zu Juschtschenko übergelaufen. Sechs hochrangige Generäle hätten ihre Solidarität mit den Demonstranten erklärt; auch der frühere Verteidigungsminister Jewgenij Martschuk wurde fahnenflüchtig.

Westukraine hinter Juschteschenko

Die Stadtregierungen und Bewohner von ganzen Regionen der Westukraine - der Hochburg von Juschtschenko - hatten sich bereits davor bedingungslos auf die Seite von Juschtschenko gestellt. Die Armee in der Westukraine wird nach Angaben ihres Kommandeurs nicht auf das eigene Volk schießen. "Ich versichere ihnen offiziell, dass sich die Einheiten des Westkommandos nicht gegen das eigene Volk einsetzen lassen werden", sagte Generalleutnant Michail Kuzin in Lwiw (Lemberg). Die Truppen wollten neutral bleiben. Niemand solle versuchen, die Armee in den politischen Konflikt hineinzuziehen, verlangte Kuzin nach Angaben der Agentur Interfax. (Eduard Steiner, DER STANDARD, Printausgabe 27./28.11.2004, red/APA/Reuters)