Wie ein ganzes Land bei den Präsidentschaftswahlen systematisch hinters Licht geführt wurde. Und warum die Rechnung der Staatsmachterhalter trotzdem nicht aufgehen wird.

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Rückblende: Züge ohne Nummern und Routenbezeichnung fahren durchs Land, voll besetzt mit schweigenden Passagieren. Zwischen den Städten verkehren Autobusse, gefüllt mit unansehnlich gekleideten Menschen. Bei jedem Wahllokal bleiben die Busse stehen, die Passagiere steigen gemeinsam aus, geben mit Wahlkarten ihre Stimme abzugeben. Danach setzten sie sich wieder in den Bus (oder ihren Wagon) und fahren weiter, um wieder und wieder zu stimmen.

An einigen Universitäten hatte man den Studenten die Pässe abgenommen, damit sie nicht abstimmen können, an anderen händigte man ihnen Wahlzettel aus, auf denen das Kreuz für den Kandidaten der Staatsmacht bereits eingetragen war. Also: Der Student geht aufs Wahllokal, erhält einen Blankowahlzettel, geht in die Wahlzelle, wo er den Blankoschein in der Manteltasche versteckt, und kehrt mit dem präparierten Wahlzettel zur Urne zurück. Draußen auf der Straße übergibt er den Blankowahlzettel seinen "Managern", erhält dafür 20 bis 40 Hrywnja und geht auf ein Bier. Der nächste Student erhält dann den Blankowahlzettel, auf dem mittlerweile wieder ein Kreuz für den Kandidaten der Staatsmacht eingetragen wurde und so weiter und so fort. Man nennt diesen Prozess "Karussell".

Tiefe Spaltung

Wahrscheinlich gab es an diesem Wahltag noch viele andere Prozesse dieser Art, für die man nur noch keine spezielle Bezeichnung gefunden hat. Die Ukrainer sind ein findiges Volk. Das Ergebnis dieser Wahlerfindungen - und deren Vorzeichen in den Wochen vor der Entscheidung - war eine tiefe Spaltung des Landes in zwei Lager. Wobei die Trennlinie erstmals nicht an der Grenze zwischen den westlichen und zentralen Gebieten der Ukraine, sondern weitaus östlicher verlief: 17 westliche und zentrale Regionen stimmten für die Opposition, zehn südliche und östliche für den Vertreter der jetzigen Staatsmacht.

Territorial hat also Juschtschenko gesiegt, in der Zahl der Stimmen Janukowitsch. Die Differenz beträgt offiziell 800.000 Stimmen, die Anzahl der gedruckten Wahlkarten 1,5 Millionen. Wem sie wann, wo ausgehändigt wurden, teilt niemand mit, aber gerade dieser "Talon" wurde zum Hauptinstrument der Fälschungen - was die Politiker beider Fraktionen einander gegenseitig vorwerfen. Zum Zeugen der Wahlverletzungen wurde praktisch das ganze Land: In den Wahllokalen, in denen mehr für Juschtschenko gestimmt wurde, leerte man Farbe, Säure und Leim in die mit Wahlzetteln gefüllten Urnen und zündete sie an. In den Wahlzellen legte man Kugelschreiber mit ausbleichender Tinte auf. Nichts wurde unversucht gelassen, um zu verhindern, dass Juschtschenko gewinnt ...

Widerstandslager

In den vergangenen Tagen hat sich das Zentrum Kiews allmählich in ein riesiges Widerstandslager gegen die Staatsmacht verwandelt. Die ganze Stadt ist in Orange gekleidet - die Farbe der Opposition. Auf jedem zweiten Auto weht eine orange Fahne mit dem Symbol der Juschtschenko-Partei "Unsere Ukraine", die Jugend hat orange Bänder an Taschen, Ärmel und Kappen geheftet.

Die Stimmung der Demonstranten ist nicht aggressiv. Vielmehr fröhlich, ganz so wären sie hier nicht an einem politischen Machtkampf beteiligt, sondern am Besuch irgendeiner "Discothek Orange". Aber vor dem verspielten Hintergrund der Bänder und Fahnen entwickeln sich in der Ukraine Ereignisse, die nicht ohne ernsthafte Folgen bleiben können. Deputiertenräte in Städten und Gebieten erkennen nicht Janukowitsch sondern Juschtschenko als Präsidenten an. Als erste taten dies Kiew, Lwow, Ternopol, Vinnica und Iwano-Frankowsk. Kleinere Städte folgten. Der Fernsehkanal der Kiewer Stadtverwaltung wurde binnen zweier Stunden zum Kanal der Opposition, und während die regierungsfreundlichen TV-Kanäle weiterhin "Tom und Jerry" sowie Seifenopern zeigen, liefert der Kanal "Kiew" Livereportagen vom Platz der Unabhängigkeit, der praktisch von den orangen Demonstranten aus der gesamten Ukraine kontrolliert wird. Mittlerweile haben sich auch viele Polizisten mit der Opposition solidarisiert.

Fatales Schweigen

Am Besorgnis erregendsten in dieser Phase ist das hartnäckige Gerücht, dass russische Soldaten in ukrainischer Uniform in die Stadt geschleust worden seien. Denn wenn sich das bestätigen sollte, kann das nur eines bedeuten: die Renaissance der sowjetischen militärischen Geopolitik. Ich kann nur inständig hoffen, dass alles ohne Blutvergießen abläuft.

Die Mentalität des ukrainischen Volkes ist ja eine besonders friedliebende und geduldige. Aber aus irgendeinem Grund ist das Volk plötzlich "aufgewacht". Die Drehbuchautoren der Wahlen "auf ukrainisch" haben nämlich offenbar fach vergessen, dass eine neue Generation von Wählern herangewachsen ist. Eine Generation, die weder die Angst vor dem KGB kennt noch von der angeblich angeborenen sowjetischen Passivität und Unterwürfigkeit angekränkelt ist.

Gerade diese Generation führt nun die Proteste und Manifestationen an. Der Präsident der Ukraine aber schweigt. Kutschma wartet ab und denkt offenbar, dass alles schon irgendwie von selbst zur Ruhe kommen wird und er sich nicht mehr zu äußern braucht. Bleibt er bei dieser Haltung, würde er damit dem Zeitgeschichtelehrbuch der Ukraine allerdings eine weitere traurige Seite hinzufügen, die künftigen Schülern zu denken geben wird. (DER STANDARD, Printausgabe 27./28.11.2004)