Für die Kiewer Demonstranten gibt es keine Zweifel: Juschtschenko ist der rechtmäßige Präsident, der Usurpator Janukowitsch muss weg. Juschtschenko - der Name ist zugleich auch schon das Programm der Opposition: deren um den Sieg geprellter Chef als Garant für eine bessere, reichere Ukraine, die von der EU freudig in die Arme geschlossen wird - Juschtschenko als Messias sozusagen.

Nach zehnjähriger Herrschaft von Präsident Leonid Kutschma ist der Wunsch nach einem Erlöser verständlich. Dass sie Kutschma, und seinen Wunschnachfolger Janukowitsch loswerden möchten, dass sie keine Korruption, keinen Machtmissbrauch und keine politischen Morde mehr haben wollen - wer könnte das den Ukrainern verübeln? Gefährlich bleibt das Bild von Messias Juschtschenko aber trotzdem. Nicht nur weil dem 50-jährigen Exbanker damit eine Bürde auferlegt wird, die er auf Dauer kaum tragen kann. Gefährlich ist das Bild auch, weil es den Blick darauf verstellt, was von Juschtschenko realistischerweise erwartet werden kann und was nicht.

Der heute als Grundbedingung für eine liberale und europaorientierte Ukraine gehandelte Juschtschenko war lange Zeit selbst ein Mann der sowjetischen, später der postsowjetischen Nomenklatura. Noch 1999, als alle, die es wissen wollten, längst wussten, wie autoritär Präsident Kutschma regieren kann, ließ sich Juschtschenko von ihm zum Regierungschef salben - vom "batko", wie er ihn damals nach altrussischer Sitte nannte, dem gütigen Vater aller seiner treuen Untertanen.

Erst als klar wurde, dass Kutschma Juschtschenko doch nicht als seinen Nachfolger im Präsidentenamt akzeptieren würde, ging der 50-Jährige in die Opposition. Dass Juschtschenko, nur um ein Beispiel von vielen zu nennen, als Regierungschef ganz radikale Kürzungen von Sozialleistungen durchsetzte, gehört - Messias hin oder her - - ebenso zu seiner Person wie die Tatsache, dass er später den Mut hatte, auf Konfrontation zu Kutschma zu gehen und diesen Mut beinahe mit dem Leben bezahlt hätte.

Dass Juschtschenko bei den Oligarchenclans, die rund neunzig Prozent der ukrainischen Wirtschaft kontrollieren, unbeliebt ist, spricht für ihn und macht ihn sympathisch. Daraus den Schluss zu ziehen, Juschtschenko werde deshalb als Präsident auf die mafiosen Wirtschaftsclans im Osten einfach pfeifen, ist dennoch falsch. Denn die Oligarchen sind, traurig aber wahr, nun einmal die wirtschaftliche Elite des Landes. Juschtschenko wird sich ihren Interessen vielleicht nicht so willfährig beugen wie Janukowitsch, berücksichtigen wird er sie aber allemal müssen.

Naiver Glaube

Ebenso zurecht gerückt werden müsste die weit verbreitete Vorstellung, Juschtschenko würde allein Kraft seiner moralischen Autorität die Korruption im Land ausrotten. Der Glaube ist gelinde gesagt naiv - und obendrein von Tatsachen nicht gedeckt. Als einer der korruptesten Bereiche der ukrainischen Wirtschaft gilt das Bankenwesen. Ausgerechnet Juschtschenko war aber von 1993 an sechs Jahre lang Chef der Ukrainischen Nationalbank. Auch wenn er sich dabei Verdienste um die Einführung der ukrainischen Währung erworben hat - als Kämpfer gegen Korruption ist er damals nicht aufgefallen. Nicht weil er sie lieben würde, doch es gab - irgendwie verständlich - Wichtigeres zu tun.

Wenn Juschtschenko Präsident wird, könnte die Situation ähnlich sein. Jenen Leuten in seiner Umgebung, die noch vor kurzer Zeit selbst an den Futtertrögen des korrupten Kutschma-Regimes hingen, käme das übrigens durchaus zupass. (DER STANDARD, Printausgabe 27./28.11.2004)