Diskurs
Sharons Kurs
Für den geplanten Rückzug aus dem Gazastreifen hat Israels Premier sein ganzes Prestige aufs Spiel gesetzt - Von Ben Segenreich
Yassir Arafats Tod hat bei vielen Trauer und bei vielen anderen ein Aufatmen ausgelöst, ohne Zweifel hat er Aufbruchstimmung erzeugt - doch es wäre nicht der Nahe Osten, würde man nicht jede Woche über etwas stolpern, was die Stimmung wieder verderben kann. Der für 2005 geplante israelische Rückzug aus dem Gazastreifen samt erstmaliger Räumung von Siedlungen wird jetzt in aller Welt und auch von vielen Palästinensern zumindest als Schritt in die richtige Richtung begrüßt, und es kann kein Zweifel mehr daran bestehen, dass Ariel Sharon ihn auch machen will. Israels Premier hat dafür sein ganzes Prestige aufs Spiel gesetzt, die Hälfte seiner Partei gegen sich aufgebracht und nach und nach alle seine Koalitionspartner geopfert.
Wenn Sharon bisher nicht gestürzt ist, dann ist das paradoxerweise der Linken zu verdanken, die erkannt hat, dass nur er den Rückzug gegen den Widerstand der Siedler durchsetzen kann, und die "historische Gelegenheit" nicht entschlüpfen lassen will. Bemerkenswert ist auch der relativ rücksichtsvolle Ton, den die israelische Regierung und die palästinensische Interimsführung jetzt zueinander anschlagen.
Doch wird das reichen, um die Doppelkrise durchzustehen? Auch wenn die große Koalition mit der Arbeiterpartei gelingt, wird Sharon wegen der wirtschaftspolitischen Differenzen permanent in Sturzgefahr sein. Und auf der palästinensischen Seite wird durch die Kandidatur Marwan Barghutis die bisher so glatte Amtsübergabe infrage gestellt. Ganz abgesehen davon, ob man in ihm einen Terroristen oder einen Freiheitskämpfer sieht: Mit einem Präsidenten, der zugleich ein Häftling ist, wäre ein Dialog nicht möglich, und ein giftiger Streit um seine Freilassung würde alle wirklich dringlichen und wichtigen Fragen überdecken. Es ist zu hoffen, dass der Aufbruch in die Nach- Arafat-Ära nicht mit dem linken Fuß beginnt. (DER STANDARD, Printausgabe, 3.12.2004)