Eine Vollmitgliedschaft würde die Türkei zum wichtigsten Entscheidungsträger der EU erheben und damit die Natur des ohnehin fragilen Integrationsprojekts gravierend verändern. Ein Plädoyer für eine "Rückkehr zur Vernunft".

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Die mehrfachen EU-Erweiterungen in der jüngsten Vergangenheit haben die Gemüter zunehmend verwirrt. Wohin führt diese Flucht nach vorn eines noch unorganisierten, wenig effizienten Europa, dem die Bevölkerung die demokratische Untermauerung versagt?

Die Europäer brauchen eine starke eigene Identität. Einen "europäischen Patriotismus" wird es aber erst dann geben, wenn die europäischen Bürger sich bewusst werden, dass sie einem selben Ganzen angehören. Der Europäische Konvent hat versucht, das Fundament dieses Ganzen näher zu bestimmen: der kulturelle Reichtum des antiken Griechenland und des Alten Rom, das religiöse Erbe, das das Leben in Europa geprägt hat, der schöpferische Elan der Renaissance, die Philosophie des "Siècle des Lumières", die Errungenschaften des rationellen und wissenschaftlichen Denkens.

Die Türkei hat keine dieser Aufbauphasen mit uns geteilt. Dies festzustellen heißt nicht darüber zu urteilen! Die Türkei hat während dieser Zeit ihre eigene Geschichte und ihre eigene Kultur gehabt,‑ die Anerkennung verdienen. Doch muss objektiv festgehalten werden, dass die identitätsbildenden, für den EU-Zusammenhalt unentbehrlichen Fundamente eben andere sind. Der Beitritt der Türkei, zu welchem Zeitpunkt auch immer, würde die Natur des europäischen Projektes völlig verändern.

Zunächst muss man sich darüber klar sein, dass dieser Beitritt kein Einzelfall bleiben könnte. Schon bildet sich in Ost und West eine Warteschleife. Die Möglichkeit eines Beitritts zur EU war ein zentrales Thema im ukrainischen Wahlkampf. Und auch Marokko wird wahrscheinlich bald versuchen, den von der Türkei geöffneten Weg zu beschreiten. Dies würde zu einem ständigen Erweiterungsprozess führen, der das Funktionieren des Systems beeinträchtigt und ihm seine ursprüngliche Rationalität rauben würde.

um zweiten muss berücksichtigt werden, dass die Einwohnerzahl ein wesentliches Element ist für die Arbeit der EU-Institutionen: Im Parlament ist die Zahl der Abgeordneten derzeit auf 750 begrenzt, wobei vorgesehen ist, eine Verteilung zwischen den Staaten im Verhältnis zu ihrer Einwohnerzahl vorzunehmen, mit einer Korrektur zugunsten der kleinsten Länder und einer Höchstzahl von 96 Mitgliedern pro Staat. Bei ihrem Beitritt würde die Türkei etwas mehr als 15 Prozent der Unionsbevölkerung stellen und hätte somit 96 Mitglieder – genauso viele wie Deutschland. Um Platz für die neuen Abgeordneten zu schaffen, müsste die Zahl der anderen Volksvertreter, insbesondere der britischen, französischen und italienischen, schrumpfen.

Hinsichtlich des Ministerrates sieht die Verfassung bei Abstimmungen die doppelte Mehrheit vor: Bevor ein Beschluss verabschiedet wird, müssen ihm 55 % der Staaten zustimmen, die 65 % der Bevölkerung darstellen. Die Türkei mit ihrem 15-Prozent-Bevölkerungsanteil wird somit zu einem zentralen Pfeiler für die Beschlussfassung. Erinnern wir uns nur an die leidenschaftliche Ablehnung Spaniens und Polens in Sachen Abstimmung mit doppelter Mehrheit, die doch nur eine geringfügige Benachteiligung für sie bedeutete. Der türkische Beitritt würde das Bild um 15 Punkte verändern! Um nicht in eine Situation zu geraten, in der das zuletzt beigetretene und somit in EU-Belangen unerfahrenste Land zum wichtigsten Entscheidungsträger erhoben wird, müsste man die Verfassung neu schreiben und eine Höchstgrenze für die Berücksichtigung der Bevölkerung der einzelnen Mitgliedstaaten festsetzen: Wie hoch aber wären wohl die Chancen, eine neue Formulierung zu finden, die alle befriedigen würde?

ll das hat weder mit Ablehnung noch mit Missachtung der Türkei zu tun. Im Gegenteil. Gerade weil dieses Land durch seine Flächengröße und seine demografische Entwicklung zu einer großen Nation geworden ist, stellt es Europa vor ein "Problem der Dimensionen". Die Türkei stellt heute, und erst recht morgen, ein solches Gewicht dar, dass sie das gemeinschaftliche Bauwerk, das noch anfällig und für andere Zwecke bestimmt ist, aus dem Gleichgewicht bringen würde. Verfassungen sind keine Allerweltsformulare, bei denen es genügt, den Namen des zuletzt Beigetretenen hinzuzufügen. Alle Verfassungen beruhen auf sorgfältigster Ausarbeitung und sind das Ergebnis von Kompromissen. Tatsache ist: Die europäische Verfassung, die nun ratifiziert werden soll, ist einfach nicht dazu geeignet, eine Macht in der Größe der Türkei aufzunehmen.

Was am meisten überrascht, wenn man sich dieser Angelegenheit näher widmet, ist die Art und Weise, in der die meisten europäischen Politiker sich in eine argumentative Sackgasse manövrieren ließen: Entweder man bejaht die Eröffnung von Verhandlungen, die in eine Aufnahme der Türkei in die EU münden, oder man schlägt ihr die Tür vor der Nase zu. Wie konnte es zu dieser Ideenarmut, zu so einer extremen Vereinfachung kommen? Anderswo versteht man es besser, mit diesen Fragen umzugehen: Die USA, Kanada und Mexiko haben unter sich ebenso viele, wenn nicht noch mehr Gemeinsamkeiten als Europa mit der Türkei. Niemand aber denkt daran, sie zusammenzuschließen. Sie haben mit viel Geduld eine Freihandelszone aufgebaut und praktizieren die bilaterale Zusammenarbeit.

Europa muss wieder Kreativität und Fantasie in die Definition seiner Beziehungen zu den Nachbarstaaten bringen – zur Türkei selbstverständlich, aber auch zu Russland und zu den Mittelmeer-Anrainerstaaten. Wenn die einzig denkbare Lösung entweder der Beitritt zur Union oder das Zerwürfnis mit seinen Partnern sein sollte, wäre die EU dazu verdammt, zu einer regionalen Sektion der Vereinten Nationen abzugleiten, die in der globalen Entwicklung nur mehr eine Randstellung einnehmen würde. Die Verhandlungen mit der Türkei sollten sich deshalb nicht auf den Beitritt konzentrieren, sondern die Art der Beziehungen untersuchen, die die EU mit seinen großen Nachbarn anknüpfen sollte. Versuchen wir, konkret an die Sache heranzugehen: Wirtschaftlich gesehen ist alles möglich, nur muss man schrittweise vorgehen; politisch gesehen können nur Kooperationen ins Auge gefasst werden.

icht zufällig hat der europäische Konvent die Aufnahme des Artikels 57 in die Verfassung vorgeschlagen hat, der es der EU ermöglicht, privilegierte Partnerschaftsverträge mit ihren Nachbarn auszuhandeln. Dieser Text ist das Ergebnis einer eingehenden Überlegung über die Art und Weise, in der die EU die legitimen Anträge ihrer Nachbarn im Osten, im Südosten und im Süden beantworten kann, ohne ihre eigene Natur aufs Spiel zu setzen.

Daraus folgt die eindeutige Schlussfolgerung: Im Dezember sollte der Europäische Rat die Eröffnung von Verhandlungen beschließen, mit dem Ziel, die Grundlage zu schaffen für eine privilegierte Partnerschaft zwischen der Türkei und der EU.

Dies erscheint mir als realistische und konstruktive Haltung, die den Erwartungen der Türken Rechnung trägt, ohne das anfällige Bauwerk der EU, das die institutionellen und haushaltstechnischen Konsequenzen der letzten Erweiterung noch nicht überwunden hat, zu gefährden. (DER STANDARD, Printausgabe, 4./5.12.2004)