Moskau im Jahr 1930: "An der Lubjanka-Mauer, wo die Antiquare ihre Buden und Verkaufsstände haben. Ein feister Kerl, der mit Boulevardliteratur und anderen zerfledderten Büchern aus zweiter Hand handelt, will einem seriösen, alten Antiquar Cechovs Werke abkaufen. Der Antiquar hat zwölf Kopeken pro Band festgesetzt, der Kerl will acht geben. Der Antiquar schweigt, der Kerl insistiert. Er wird aufdringlich, pöbelt - der Antiquar tut, als höre er nicht zu und rückt nervös die Bücher auf seinem Stand zurecht. Plötzlich sagt er mit Nachdruck: - Wenn Cechov von den Toten auferstünde, würde er dir eins in die . . . geben! Der Mensch hat geschrieben und geschrieben, dreiundzwanzig Bände hat er geschrieben, und du Großmaul willst sie für drei Kopeken kaufen!"

Als Maxim Gorkij diese Szene beobachtete und aufschrieb, war Cechov schon 26 Jahre tot. 23 Jahre später, 1953, starb in Paris Ivan Bunin. Wieder ein halbes Jahrhundert danach, nämlich jetzt, kommt in Berlin ein Buch heraus, das irgendwie zwischen den Zeiten steht, gerade weil es aus den Versatzstücken der verschiedensten Zeiten gebaut, alt und trotzdem zeitlos ist.

Geschrieben hat dieses Buch Ivan Bunin, begonnen hatte er damit bereits 1910, erst in seinem Todesjahr 1953 nahm er die Arbeit wieder auf, erschienen ist es im Jahr 1955 in Paris in russischer Sprache, herausgegeben wurde es damals von A. A. Bunina, seiner Witwe.

Nun liegt das Werk also erstmals in deutscher Übersetzung vor, die Cechov-Autorität Peter Urban hat die Herausgeberschaft übernommen und das Ausnahmebuch kommentiert. Er schreibt in seinem Vorwort: "Neben der Liebeserklärung an Cechov, die Vladimir Nabokov gegenüber seinen Studenten auf Englisch gemacht hat, sind die - Fragment gebliebenen - Aufzeichnungen Ivan Bunins das Wahrhaftigste und Beste, was auf Russisch je über Anton Cechov gesagt worden ist."

Bunins Cechov. Erinnerungen eines Zeitgenossen sind nur scheinbar durcheinander gewirbelte und aneinander gereihte Zitate aus Briefen und Rezensionen, aus Gesprächsfetzen und anderen Erinnerungsstücken. Irgendwann beginnen diese Splitter zu flirren und sich wie die Farbpünktchen eines pointillistischen Gemäldes zu einem fein gesponnenen, vieldimensionalen Porträt des russischen Schriftstellers zusammenzusetzen, der 1904 mit nur 44 Jahren an der Schwindsucht starb.

Der um zehn Jahre jüngere Bunin war mit Cechov bis zu dessen Tod eng befreundet: "Er begegnete mir mit gleich bleibend verhaltener Zärtlichkeit, war immer freundlich und, da er der Ältere war, kümmerte er sich um mich, ließ mich jedoch seine Überlegenheit niemals spüren."

Bunin notierte seine Erinnerungen an den schon so lange toten Weggefährten in schlaflosen Nächten "auf Zetteln, Papierfetzen, manchmal sogar Zigarettenschachteln", wie seine Witwe überlieferte. Er suchte die Versatzstücke aus den fast 4500 Briefen, die Cechov geschrieben hatte, aus den Briefen der Zeitgenossen an den Schriftsteller, er kramte sie aus seinem eigenen Gedächtnis. Er war damals 83 Jahre alt, Literaturnobelpreisträger, Emigrant, vergessen, verarmt, verbittert, aus den sowjetischen Lehrbüchern verbannt. Mit dem Bild Cechovs zeichnete er letztlich seine eigene Jugend nach, doch nur andeutungsweise und nie vordergründig.

Als Cechov 1904 bereits todkrank nach Badenweiler zur Kur aufbrach, wusste er, dass er nicht nach Russland zurückkommen würde. Er trug Nikolaj Telesov, der ihn kurz vor seiner Abreise als Letzter besuchte, auf: "Grüßen Sie mir Ihre Kollegen in der Sreda von mir. (. . .) Und Bunin sagen Sie, er solle schreiben und noch einmal schreiben. Aus ihm wird ein großer Schriftsteller. Sagen Sie ihm das von mir. Vergessen Sie es nicht." (DER STANDARD, Printausgabe vom 4./5.2004)