Der demonstrative Wille zur Demokratie war nicht nur für die Ukrainer selbst überraschend, mit der Geschwindigkeit der Veränderungen hat auch Brüssel nicht gerechnet. Man habe Zeit vertan und könnte weiter sein, lautet dieser Tage der Tenor in- und ausländischer Beobachter in Kiew. Schließlich stand der Kutschma-Clan vergangene Woche bereits knapp vor dem Aufgeben: Die Oligarchen transferierten Vermögen ins Ausland, Akten im Präsidentenpalast wurden vernichtet, und immer mehr Vertreter der Politelite wechselten zur Opposition.

Wenige Tage später sieht das Bild anders aus. Das Kutschma-Lager ist halb wiedererstarkt. Das Urteil des Obersten Gerichts war zwar ein schwerer Schlag, doch wie die ersten Vorbereitungen auf die Wiederwahl zeigen, stören die Kutschma-Leute den Prozess gehörig, wenn sie ihn nicht gar aktiv lenken.

EU war nicht vorbereitet

Dass Oppositionsführer Juschtschenko nicht der Entschlossenste ist, ist kein Geheimnis. Deutlich geworden ist aber auch, dass die EU auf eine Revolution, bei der es auf wenige Tage ankommt, nicht vorbereitet war. EU-Außenbeauftragter Javier Solana hat sich auf Blitzvisiten beschränkt und den Kutschma-Machthabern nicht klar zu verstehen gegeben, dass sie für Europa keine akzeptablen Verhandlungspartner mehr sind. Vielmehr hat er sie an den Verhandlungstisch zurückgeholt und für sie eine Beendigung der Blockade der Regierungsgebäude und eine Verfassungsänderung zur Abwertung des Präsidentenamtes ausgehandelt. Damit hat er die Opposition geschwächt und den Schwung der Demokratiebewegung gefährdet.

Europa unterstützt nicht einzelne Kandidaten, sondern Werte, heißt es aus Brüssel. Auch die Demonstranten wollen Demokratie. Viele von ihnen sind nicht für Juschtschenko, unterstützen ihn aber, weil er zum Symbol der Demokratisierung geworden ist. Damit die Revolution nicht in faulen Kompromissen verpufft, wäre mehr Rückenstärkung der EU notwendig. (DER STANDARD, Printausgabe 6.12.2004)