Linz - Die gröbsten Anlässe zu Thomas Bernhards Publikumsbeschimpfung sind in der dann doch erstaunlich bewegten jüngeren Historie Österreichs irgendwann weggeschmolzen. Heldenplatz hieß 1989 das wild umstrittene Herz der Republik: Verunglimpfungen von Persönlichkeiten wie Waldheim oder Vranitzky waren in Sterbe-Kadenzen von einer unerhörten Suggestivkraft auf der vom Schreck gerührten Bühne der Republik noch einmal hochwirksam ausposaunt worden.
Insofern war Heldenplatz ein Epitaph auf die Wirklichkeitserprobung eines Autors, der im Angesicht des eigenen Todes seinem missliebig gewordenen Land den letztmöglichen Totenschein ausstellte. Heute fährt man keine Fuhre Mist mehr vor das Theater. Heute erfreut man sich eines Weltautors, der in dem Maße in den Allgemeinbesitz übergangen ist, wie man sein Testament missachtet hat.
Neue, freie Blicke
Positiv gesprochen: Der Blick wird frei für Wiederaneignungsversuche - Blicke, wie sie Regisseurin Sabine Mitterecker in den Kammerspielen des Linzer Landestheaters auf ein Parkettpodest wirft. Sie entdeckt im Schmährufer und Schmähbruder Bernhard den erotischen Schmalhans - den Gefriermeister des Bürgertums.
Mitterecker, die aufgrund einer nervtötenden Ignoranz vonseiten der Wiener "Theaterszene" auswärts zu arbeiten gezwungen ist, entdeckt noch viel mehr. Sie hat das dreiaktige Dramenungetüm in die fortschreitende Analyse "unhaltbarer" Familienverhältnisse umgekehrt. Bernhard wird vom Kopf auf die Füße gestellt.
Im ersten Akt - der Exposition - entfaltet die Wirtschafterin Zittel (Silvia Glogner) das suizidale Panorama eines Professoren- und Emigrantenlebens, das in der Wohnung am Wiener Heldenplatz in einem freiwilligen Fenstersturz des besagten Mathematikers Schuster, eines ehedem in Oxford lehrenden Juden, niederschmetternd endet.
Die Zittel ruht nun wie Klytämnestra der Spiegelsalons auf der zentralen Ledercouch - die wahre Witwe in einem zusehend undurchdringlich werdenden Beziehungsgeflecht, das zwar von Psychosen handelt, in Wahrheit aber Bernhards Textspuren als Lügenparagrafen enttarnt.
Denn geliebt hat den Selbstmörder, der mit einer erinnerungsempfindlichen Ungeliebten verheiratet war, nur diese Domestikin - die als Bienenkönigin das eckig tanzende Putzmädchen (Bettina Buchholz) herzt, die ihre Schuhe nachlässig abstreift, als empfände sie nach Professor Schusters Tod eine tiefe, postkoitale Ruhe. Nie war Bernhard näher bei Genet. Der berühmte "Volksgarten"-Akt, der Ruhepunkt nach Professor Schusters Begräbnis, ist der Versuch eines binnenfamiliären Mediationsaktes. Auf wenigen Gartenstühlen verdichten die Töchter - Typ Selfmade-Frau (Olga Strub), apart frisiertes Balletteusengewächs (Eva-Maria Aichner) - eine bedrohliche Untergangsstimmung.
Vollends der Professorenbruder (Günter Rainer) entfaltet in seinen Tiraden einen Geschmack von angelesenem Voltaire - ein feister, nachlässig eleganter Wortjongleur, der seine Ekelproben wie Geschmackskügelchen vor sich herrollt. Dass Österreich eine "Kloake" sei - derartig wohlfeile Poesiebestandteile des Bernhard-Kosmos rutschen ihm eher beiläufig heraus. Und somit explodiert der Knoten im letzten Bild: in dem nichts heil bleibt, aber alles absehbar vor die Hunde geht. Denn statt wie weiland Karl-Ernst Herrmann die überhohe Untergansmansarde für das Totenmahl gefühlsecht nachzubauen, deutet Anne Neusers Bühne lediglich einen erotischen Spielsalon an. Die Goldberg-Variationen wehen herein. Eine verspätete Rokoko-Gesellschaft erfreut sich einer frivolen Frauentauschwirtschaft.