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Foto: Archiv
Wie ein Vorposten des indischen Subkontinents liegt die ehemalige portugiesische Kolonie am Arabischen Meer. Heute bietet dieser romantische Zipfel eine Mischung aus ungefedertem Abenteuer und luxuriöser Ausgeruhtheit


Vorne oder hinten? Man kann sich entscheiden. Hinten im Bus zu sitzen hatte schon immer etwas von Abenteuer. Hier kommt das Abenteuer ungefedert. Es ist ein bisschen wie beim Rodeo: eine Hand an der Rückenlehne des Vordersitzes und sonst einfach locker bleiben. Draußen vor den vergilbten Fensterscheiben zieht ein verwunschener Garten vorbei. Dichte, satte Vegetation, die den Bus umschließt; schlanke, hohe Palmen, die ihre Kronen in den strahlend blauen Himmel strecken.

Der unasphaltierte Weg bahnt sich eine schmale, kurvenreiche Schneise durch das schattige Grün, in unregelmäßigen Abständen tauchen kleine Villen und Häuser aus dem Gebüsch - kürbisgelb, petrolgrün, türkisblau. Ihre Anstriche sind über Jahrzehnte vom Monsun verwaschen, das Mauerwerk teilweise zugewachsen und baufällig, mit windschiefen, aus Holz geschnitzten Balkonen und Veranden, auf denen alte Motorräder, struppige Hunde oder zahnlose Inder herumstehen.

Die Alternative, vorne im Bus zu sitzen, verbannt diesen prachtvollen Garten aus dem Gesichtsfeld und lenkt die ganze Konzentration auf Straße, Bus- und Linksverkehr, der sich anscheinend ganz nach eigenen Gesetzen regelt: Die Geschwindigkeit bestimmt allein die Kraft der Motoren, überholt wird mit Vorliebe in Kurven (weil dort die Straßen noch am breitesten sind), waghalsige Manöver werden nur durch kurzes Hupen angekündigt. "Good horns, good breaks, good luck", sagt der Fahrer, dreht sich um, zeigt die weiße Zahnreihe unter dem dunklen Oberlippenbart und lenkt den Bus vorbei an Reisfeldern, in denen Wasserbüffel wie für ein Landschaftsporträt Modell stehen.

Schon die Anfahrt in das ehemalige Hippie-Paradies ist ein Abenteuer - zumindest für mitteleuropäische Gemüter. Goa ist nicht Indien. Der kleine Küstenstaat liegt wie ein Vorposten von Indien am Arabischen Meer. Goa war bis 1961 portugiesische Kolonie, und die Spuren der jahrhundertelangen europäischen Herrschaft ziehen sich bis heute durch alle Lebensbereiche, machen Goa zu dieser eurasischen Mixtur aus Menschen, Sprachen und Lebensgewohnheiten.

Hindus, Christen und Moslems sprechen Portugiesisch, Englisch oder indische Dialekte, leben von der Landwirtschaft, dem Bergbau oder vom Tourismus. Die rund 1,5 Millionen Goaner hausen nicht im Elend, ihre Unterkünfte sind meist mit Strom versorgt, ihre Kinder müssen zur Schule (92 Prozent der Bevölkerung sind Alphabeten) - alles demografische Fakten, die mit dem große Rest Indiens nicht viel zu tun haben.

Goa hat den höchsten Lebensstandard in Indien

Und: Goa will weg vom Image des Hippie-Idylls. Tagelang taucht kein einziger Hippie auf. Nicht im ruhigeren Süden des indischen Bundesstaates, wo in den vergangenen Jahren zwischen dem Cavelossim und dem Velsao Beach luxuriöse Hotelanlagen wie Sonnenschirme aus dem Sand schießen und wo verwöhnte, vom Job gestresste Europäer Entspannung und Sinn suchen, Ayurvedakuren erleben und Yoga praktizieren - und sich doch gerne Drinks mit Schirmchen an den Pool servieren lassen.

Aber eigentlich wimmelt es von Hippies, auch im noblen Süden. Managerinnen aus München oder Familien aus London, die im Fünf-Sterne-Resort absteigen, abends zauberhafte, von italienischen Küchenchefs kreierte Fünf-Gänge-Menüs mit Blick auf kunstvoll von europäischen Architekten designte Hotelanlagen genießen, oder Studenten aus Tel Aviv und Raver aus Japan, die als Backpacker durch den Norden Goas trampen, auf der Suche nach dem ehemaligen Aussteiger-Flair, der geilsten Mondscheinparty und dem billigsten Zimmer.

Touristen bleiben Touristen, und für die Inder in Goa sind alle Weißen Hippies.

Ausländer ziehen sich am Strand bis auf die Badehose oder den Bikini aus, trinken Alkohol (was für Inder verwerflicher ist, als einen Joint zu rauchen), und sie kaufen sich am Flohmarkt im legendären Anjuna noch immer gebatikte T-Shirts.

Goa wirkt magisch und anziehend, nicht nur auf indophiles Wellnesspublikum aus dem Westen, sondern auch auf alte Inder, die sich, sofern sie wohlhabend genug sind, im "God's waiting room", wie die Einheimischen Goa auch nennen, einkaufen, um hier ähnlich wie rüstige US-Rentner in Florida einem sonnigen Lebensabend entgegenzulächeln.

Ein Gegensatz? Vielleicht - und längst nicht der einzige. Wer sich von den mehr als 100 Kilometer traumhafter Sandstrände losreißen kann und sich ins Landesinnere vorwagt, wird allerorts auf Widersprüche stoßen, die sich aus der kulturellen Vielschichtigkeit dieses Landes ergeben - und es letzten Endes so reizvoll machen.

"God's waiting room"

In Goa stehen Tempel und Kirchen auf engstem Raum nebeneinander: Katholische Prunkbauten aus dem 16. Jahrhundert, wie etwa die Se Kirche oder die Kirche Bom Jesus, die der ehemaligen Hauptstadt Old Goa (traditionsreicher Boden, der trotzdem - gerade im Gegensatz zu den belebten Städten und Dörfern - sonderbar leer und verwaist wirkt) den Namen "Rom des Orients" beschert haben.

Und hinduistische Tempelanlagen, die im Gegensatz zur Schwere und Prunksucht der katholischen Kirchenbautradition wie kleiner dimensionierte, menschenfreundlich bunte Kitschburgen dastehen, in denen jeder Hindu (und jeder andere, der auch möchte), sehr persönlich, anscheinend ohne viele Vorschriften seinen Glauben lebt.

Wer sich die Flip Flops abstreift und die Glocke am Eingang läutet, um die Gottheit, die in den Hindogi Bergen schläft, aufzuwecken, kann sich für ein paar Rupien eine kleine Zeremonie erbitten, bekommt mit Farbstaub ein Mal auf die Stirn und einen Kranz aus duftenden Blüten umgehängt. Immer beäugt von indischen Buben, die durch den Tempel wuseln und anschließend in das nebenstehende Bassin hüpfen, wo auch ältere Inder ein Bad nehmen und ihre Wäsche waschen.

Der Weg führt weiter flussaufwärts, am Mondavi River entlang, dem größten von Goas elf Flüssen, ins Landesinnere. Die Boote am Fluss mit Dächern aus getrockneten Palmenblättern transportieren nicht nur von der Landschaft berauschte Touristen wieder zurück in die Hotels an der Küste, sondern auch Eisen und Mangan, das in Goas Bergbau gefördert wird.

Harte Lebensbedingungen im Tagbau

Der Blick weit über das gegenüberliegende Ufer, wo karge Landschaften von rotem Staub bedeckt liegen, gibt auch Touristen aus sicherer Entfernung einen kleinen Einblick in die harten Lebensbedingungen im Tagbau, der in Goa, erzählt Reiseführer Jonas, zu Wasserknappheit geführt und vielen Bauern ihre wirtschaftliche Grundlagen entzogen hat. Kein Wunder, dass sich die Einheimischen auf die dritte große Einnahmequelle, den Tourismus, stürzen.

Die prachtvolle Gewürzfarm - nur eine halbe Stunde schaukelige Busfahrt weiter durch das Hinterland - beweist, dass es funktionieren kann. Was auf den ersten Blick nach einem Spaziergang ausschaut, entpuppt sich nur nach wenigen Metern als Lehrpfad in Sachen Gewürzkunde, lässt einen mit eigenen Augen staunen, wo der sprichwörtliche Pfeffer wächst und nicht nur der, sondern auch Chili, Kokos-und Muskatnüsse, Zimt, Nelken und vieles mehr.

Was die indische Küche mit diesen Gewürzen in fantasievollen Kombinationen aus verschiedenen Fischen und Gemüsen zaubern kann, beweist das landestypische Essen auf einfachen Holztischen. Mit Fingern von Bananenblättern gegessen, möchte man eine Siesta halten wie die Inder, die auf den Holztischen im Schatten ein Nickerchen machen.

Der Gegensatz zu dieser seligen Ruhe könnte nicht größer sein, wenn am späten Nachmittag in Anjuna Beach bei Feni Colada (Feni ist der Goanische Schnaps) DJ Ötzi aus einer der Musikboxen der sich aneinander reihenden Beaches im umtriebigen Norden Goas röhrt. Der Sonnenuntergang ist trotz allem so atemberaubend, dass sogar alte Inderinnen in Saris ihre Füße im Meer baden.

Die indischen Touristen kommen überhaupt meist erst dann, wenn der Goa-Zirkus abgezogen, wenn die Strände sich leeren und die Mondscheinpartys für ein halbes Jahr vorbei sind. Von April bis September, wenn der Monsun Goa beherrscht. Und mit ihm die Schmetterlinge kommen, und der Garten Goa in voller Blüte steht. (Mia Eidlhuber, DER STANDARD, rondo/10/12/2004)