Wyatt Tee Walker, geboren 1929 in Brockton, Massachusetts, genoß eine klerikale Ausbildung in Virginia, arbeitete dann als Priester. Er begann für die lokale Niederlassung der Bürgerrechtsorganisation NAACP und für die Southern Christian Leadership Conference zu arbeiten. Er traf Martin Luther King und wurde zu seinem Berater und Vertrauten. Jede seriöse King-Biografie wandert heute vor ihrer Veröffentlichung über Walkers Schreibtisch. Seit 1967 ist er Vorstand der Canaan Baptist Church of Christ im New Yorker Stadtteil Harlem und gilt als wesentlich verantwortlich für die "Harlem Renaissance", das Wiedererblühen des einstigen Gettos. Neben politischen Arbeiten veröffentlichte Walker auch etliche Bücher über die Geschichte afroamerikanischer Musik.

DER STANDARD: Anfängerfrage: Worum geht es im Gospel?

Wyatt Tee Walker: Es geht um die Botschaft Gottes. Die Musik ist da nur transportierendes Vehikel. Der wesentliche Unterschied zu europäischen Messen ist der Rhythmus. Europäische Musik ist von Melodie gekennzeichnet, afrikanische Musik (klatscht) basiert auf Rhythmus. Sie ist darauf ausgerichtet, auch den Körper anzusprechen. Immerhin sind wir Wesen, die aus Verstand und Gefühl zusammengesetzt sind.

DER STANDARD: Gospel ist also lebensnäher.

Walker: Ja. Was im Gospel gesungen wird, reflektiert immer auch, was uns im täglichen Leben beschäftigt. Die Wurzel dessen, was heute Gospel genannt wird, liegt in der Zeit der Depression hier in den USA. Seitdem gilt: "Gospel is good news about bad times." Aber Gospel ist nicht nur "Sufferer Music". Er besteht zu einem gutteil aus Hoffnung und Freude. Aber Jesus sagt auch: Im Leben werdet ihr einer Menge Prüfungen ausgesetzt sein. Das bedeutet, man kann ohne etwas Leid kein Christ sein. Die Musik spiegelt diese Haltung wider. Trotzdem ist es nicht wie im Blues. Dort gibt es keine Hoffnung. Darum gibt es auch keine Blues-Chöre (lacht). Blues ist der Ausdruck eines Individuums in seinem bestimmten, negativen Umstand.

DER STANDARD: Wie war das, als die ersten Gospelstars zum Pop wechselten?

Walker: Als Leute wie Sam Cooke plötzlich Pop sangen, war das für viele eine Enttäuschung. Meine Haltung war: Kommt es von Gott, kann man nichts dagegen tun. Wenn nicht, wird es sich auch nicht durchsetzen. Die Wurzel schwarzer Musik ist das Verlangen nach Freiheit. Auch in der so genannten säkularen Musik. Ein Wort übrigens, für das es in den rund 1100 Sprachen Afrikas keine Entsprechung gibt. Wir glauben, dass alle Musik von Gott kommt, sein Wille ist. Das ist die afrikanische Sicht.

DER STANDARD: In Europa boomt Gospel seit Jahren. Haben Sie dafür eine Erklärung?

Walker: Viele Europäer, die mit Gospel in Berührung kommen, fühlen sich auf merkwürdige Weise erleichtert, sozusagen wieder ganz. Die europäische Kirche pflegt das Vorurteil, dass emotionell zu sein gleichbedeutend ist mit unintellektuell. Das ist falsch. Denken sie nur an Martin Luther King, einen der bedeutendsten Männer des 20. Jahrhunderts. Wo kam er her? Aus Harvard oder Princeton? Nein, er kam aus der schwarzen Kirche. (flu/ALBUM/ DER STANDARD, Printausgabe, 11./12.12.2004.2004)